Verletzlich
Ich kann es nicht glauben.«
Die Stimme kam aus dem schwarzen Rechteck, aus dem Haus. Ich hielt die Taschenlampe darauf und leuchtete in eine mehrere Meter tiefe Leere. Der Lichtkegel malte einen Punkt auf die gegenüberliegende Wand.
Der Boden bestand aus groben Planken und war mit Wollmäusen, Schmutz und Blättern bedeckt. Fußspuren waren nicht zu sehen. Ich war schon im Begriff gewesen, das stecken gebliebene Auto zu erwähnen, war dann aber froh, dass ich es nicht getan hatte.
»Wo sind Sie?«, fragte ich und spürte mein Herz bis zum Hals pochen.
»Ah, das gefällt mir«, antwortete die Stimme.
Sie kam jetzt von draußen, irgendwo zu meiner Rechten war sie zu hören. Ich schwenkte die Taschenlampe herum und drehte mich hektisch im Kreis. Nirgends war jemand zu sehen.
»Deine Kehle ist … parfaite . Vollkommen«, sagte die Stimme. »Und ich kann … sel riechen, wenn auch nur den leisesten Hauch davon. Deine Füße sind nackt. Mehr als perfekt. Und ist das eine Art U-ni-form, die du trägst?«
Das Wort »Uniform« sprach die Stimme in drei langsamen Silben und mit einem »Ü« zu Beginn aus, als würde die Aussprache Schwierigkeiten bereiten. Nein, wie die eines einfachen Südstaatlers klang sie nicht; sie wirkte fast kultiviert. Mir wurde eiskalt.
Ich wich zurück, ließ das Haus aber nicht aus den Augen. Das Auto befand sich ungefähr vierzig Meter entfernt. Ich war schnell, aber würde ich es schaffen, bevor er mich zu fassen bekam? Über all die Wurzeln und Sträucher, dazu die Steigung. Und was wäre, wenn es mir gelingen sollte, bis zum Auto zu kommen und mich einzuschließen? Er könnte einen Ast nehmen, die Windschutzscheibe einschlagen und mich hinausziehen. Mir entwich ein Laut, der wie das Jaulen eines Tieres klang.
»Was denkst du gerade?«, fragte die Stimme. »Ich kann keine Gedanken lesen, würde aber zu gern wissen, was in dir gerade vorgeht.« Sie kam jetzt von hinten. Panisch fuhr ich herum und sah nichts als noch mehr Bäume.
»Ich kann Sie nicht sehen«, rief ich. »Kommen Sie … komm raus, damit ich dich sehen kann.«
»Aber ich bin doch da.«
Ich drehte mich noch einmal im Kreis, ohne etwas entdecken zu können.
Mein Herz hämmerte weiter wie verrückt. Das Auto war meine einzige Chance. Vielleicht fand ich dort irgendetwas, was sich als Waffe eignete. Irgendetwas – vielleicht unter den Sitzen oder im Handschuhfach.
Das ist alles nicht wahr. Das ist nicht …
Ich spannte die Oberschenkelmuskulatur an, um loszusprinten.
»Hier«, sagte in dem Moment die tiefe Stimme. »Hier bin ich.«
Ich blickte auf. Hoch in einem Baum, auf einem schmalen Ast, stand eine große, dunkle Gestalt. Sie hatte schwarze glänzende Augen. Als sie sich hinunterließ, hatte ich das Gefühl, die Welt würde über mir zusammenbrechen.
2
Veränderungen
In meinem Kopf flatterte etwas. Ich versuchte es zu fangen, war aber jedes Mal zu langsam. Nach einer Weile war ich müde und schlief wieder ein. Als ich das nächste Mal erwachte, hörte ich Stimmen.
»Höchstens zwei Tage, würde ich sagen, vielleicht drei«, sagte ein Mann.
Die Stimme war nicht tief, ein wenig klang sie wie die meines Kunstlehrers aus dem letzten Jahr, Mr Mancuso, dessen Leidenschaft für Malerei manchmal mit ihm durchging. Einige Schüler nannten ihn hinter seinem Rücken »Mr Maniküre«. Warum hatte ich eine tiefe Stimme erwartet?
Warum war es hier so hell? Aus irgendeinem Grund ging ich davon aus, dass es dunkel sein müsste. Aber ich konnte das Licht durch die geschlossenen Lider sehen. Ich wollte die Augen öffnen, doch sie waren verklebt. Beim zweiten Versuch bekam ich sie einen Schlitz weit auf und erblickte ein Stück eines hellen Raums mit gefliestem Boden und hellgelben Wänden, auch wenn das Bild von den Gitterstäben meiner Wimpern unterbrochen wurde.
Als ich den rechten Arm hob, um mir die Augen zu reiben, verspürte ich ein schmerzhaftes Ziehen; ein Plastikschlauch mit einer Nadel am Ende steckte in meiner Hand. Der Schlauch führte aus meinem Sichtfeld hinaus. Ich ließ die Hand wieder sinken und fühlte Laken und eine dünne Decke. Ich befand mich in einer Art Bett.
»Aber zwei Transfusionen? Zwei?«
Der Stimme nach war es eindeutig meine Mutter, auch wenn ich sie nicht sehen konnte. Jemand ging im Flur vorbei, eine stämmige Frau in klobigen Krankenhauslatschen. Ich sah ihr nach, ohne wirklich etwas zu begreifen.
Da war wieder die Männerstimme, dieses Mal zu meiner Linken. Ich versuchte den Kopf
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