Verletzt
verschwinden spurlos, wenn sie getötet wurden. Niemand kennt dafür eine Erklärung.
Das Buch endet mit der Gründung des ersten Widerstands und der Manifestierung der 7 Gebote. Ich gehe meinen Bücherstapel durch und ziehe „Der Widerstand“ heraus.
Der Widerstand?
Ich zähle dazu, bin eine der Widerstandskämpferinnen, seit dem Tag in der Mädchentoilette, vor fünf Jahren. Mir wurde das Leben gerettet, aber alles andere wurde mir genommen. Ich erinnere mich nicht an mein Zuhause, meine Familie, meine Eltern, Freunde. Ich gehörte jetzt zum Widerstand und das Erste, was mir der Widerstand nahm, war meine Vergangenheit.
Das, was ich bekam, war eine Zukunft, in der ich hunderten von Tests unterzogen wurde und hunderte von Trainings absolvieren musste, bis ich eine voll ausgebildete Nahkämpferin war und meinem Team hier in Zone eins zugeteilt werden konnte.
Zwei Jahre Ausbildung und 3 Jahre Team Sektion 13, wie ich es nenne. Das ist es, an was ich mich erinnern kann. Das ist meine Vergangenheit. Aber ich will mich nicht beklagen. Ich lebe und ich lebe für eine gute Sache.
Wären damals in der Mädchentoilette die zwei Typen nicht aufgetaucht, wäre ich jetzt tot. Ich bin jetzt eine von ihnen. Und jede Bestie, die ich erledige, kann kein kleines Mädchen aufspüren und es kaltblütig umbringen. Ja, der Widerstand und die 7 Gebote machen Sinn, denke ich und lege das Buch zur Seite, ohne es ein einziges Mal aufgeschlagen zu haben. Vielleicht brauche ich gar nicht so viel zu lesen.
Vielleicht reicht es aus, mich nur genau an alle Einzelheiten zu erinnern. An alles, das ich erlebt habe, um die Prüfungen doch bestehen zu können. Aber ich bin schon müde und meine Gedanken sind nicht mehr klar und strukturiert, sondern schwer wie Blei. Das Schmerzmittel, das mir Asha verschrieben hat, macht es auch nicht einfacher und ich beschließe mir ein Nickerchen zu gönnen, bevor ich mir das nächste Buch vornehme. „Neue Bestienerscheinungen und ihre Verhaltensweisen.“
Kapitel 9
Als ich meine Augen wieder öffne, stelle ich fest, dass es noch Nacht ist. Gut, ich habe nicht zu lange geschlafen. Ein Blick auf die Uhr verrät mir die Zeit. Drei Uhr morgens. Die Lichter unter mir in Zone eins sind weniger geworden. Auch die Nunbones gehen irgendwann zu Bett, denke ich. Die „Neuen Bestienerscheinungen und ihre Verhaltensweisen“ muss mir vom Schoß gefallen sein.
Bin ich so schnell eingeschlafen, dass ich nicht einmal mehr die Zeit gefunden habe, es wegzulegen?
Ich hebe es hoch, es ist aufgeschlagen und ich betrachte die Bestie, die mich aus dem Buch heraus anschaut. Die Zeichnung ist wirklich sehr gut gelungen, sie sieht fast aus, als wäre sie echt und nicht nur Farbe auf Papier. So eine Bestie habe ich noch nie gesehen. Der blaue schimmernde Panzer, große fast schwarze Augen und die Form eines Teddybären erinnern mich mehr an ein Plüschtier für Kinder, als an ein gefährliches Monster.
Ich blättere die Seite um, weil ich den Text über diese neue Bestienform lesen möchte, finde aber nur ein Foto einer weiteren neu entdeckten Bestie. Ich blättere zwei Seiten vor. Auch nur wieder ein Bild? Wie soll ich denn nur mit Bildern etwas über die Bestien erfahren? Ich blättere wieder zurück zur blauen Teddybärenbestie. Fast schon unschuldig schaut sie mich an. Was der Grafiker wohl damit bezwecken wollte, sie so süß zu gestalten? Gouch hat mir einmal so ein Grafikprogramm gezeigt. Die Möglichkeiten sind verblüffend. Innerhalb weniger Minuten hat er ein Bild von mir und Asha so verändert, dass es aussah, als kämpften wir beide, anstatt nur ich allein.
Ich weiß intuitiv, dass mit dem Bild etwas nicht stimmt, aber verflucht noch einmal, ich kann nicht sagen, was es ist. Wieder sehe ich mir jede Einzelheit an.
Ich habe noch nie so eine Bestie gesehen und doch hat sie etwas Vertrautes. Vielleicht saß früher genauso ein Teddybär auf meinem Bett. Damals, als ich noch klein war, als ich noch Eltern und ein echtes Zuhause hatte, als ich noch nichts von den 7 Geboten wusste.
Ja, das kann es tatsächlich sein. Der Augenblick macht mir bewusst, dass mit mir etwas nicht stimmt. Es ist nicht richtig, dass ich mich nicht an meine Eltern, an mein früheres Leben erinnern darf.
Ich lege das Buch vor mir auf den Boden, lasse den Teddybären aufgeschlagen, schaue aus dem Fenster. Irgendwo da draußen sind sie, meine Eltern. Irgendwo da unten in Sektor 13 vermissen sie seit fünf Jahren ihre Tochter.
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