Verletzt
aufgeschlagen haben könnte, weil es einen unverkennbaren Zusammenhang gibt.
Ich fahre mit meinem Fingernagel die feinen Striche auf dem weißen Leder nach. Alle Striche zusammen ergeben eine Zeichnung, ein Bild. Es ist perfekt, fast wie echt. Eine Frau, eine junge Frau. Ihr ganzer Körper ist voller Tattoos.
Sie ist eine Kämpferin und sie reitet auf einer Bestie, die aussieht wie ein Teddybär mit einem blauen schimmernden Brustpanzer. Auf ihrer Stirn überstrahlt ein Tattoo alle anderen. Es ist der Stern vom Buchtitel.
Und die Frau?
Sie sieht aus wie ich!
Ein paar Jahre älter vielleicht. Es sind viele Tattoos dazugekommen. Ich erkenne sie alle. Alle, die ich heute schon trage, und ich sehe jedes, das ich noch nicht habe. Aber der Stern ist das Schönste von allen. Sie sieht wahnsinnig gut aus. Ihre Augen zeugen von Stärke und unbeugsamem Willen. Sie ist nackt, nur der Körper der Bestie beschützt sie vor neugierigen Blicken Fremder.
Ich würde mich niemals nackt auf einer Bestie reitend fotografieren lassen, schießt es mir plötzlich durch den Kopf und mit einem Mal wird mir ganz warm. Soll das wirklich ich sein?
Die Hübsche sieht mir zum Verwechseln ähnlich! Die Idee, auf einer Bestie zu reiten, finde ich spontan anziehend, auch wenn mir das Motiv viel zu sexy ist. Also echt, warum muss die Retterin denn nackt sein?
Retterin? Wie komme ich darauf, dass die Reiterin eine Retterin sei?
Ich schlage das schlanke Buch auf. Von hinten. 111 Seiten. Nicht mehr. Das kann ich heute Nacht schaffen, wenn es spannend ist.
Mal sehen. Retterin oder doch nur eine Reiterin? Ich werde es herausfinden. Ich lese einen Absatz, die letzten beiden Sätze:
Die Göttin der Liebe stieg von ihrem geflügelten Ross ab, das kein geringerer war als Gaia, der König der Bestien. Sie sah auf den Unterdrücker hinab, der tot zu ihren Füßen lag, und das besiegelte das Ende der Knechtschaft aller Überlebenden gleich Mensch gleich Bestie. Das war das Ende.
Ein Happy End! Das ist sehr schön! Ich blättere durch die Seiten, lasse sie durch meine Finger wehen wie Blätter im Oktoberwind, bis kein Blatt übrig ist. Bis mich die erste Seite ansieht.
Das Ende. Dies ist die 3. Prophezeiung von Calideya 3. Dezember Jahr Null . In dem Jahr, als alles begann und die Zeit neu geschrieben wurde.
Kapitel 1 Göttin der Liebe
An dem Tag, als sie den Ersten der vielen niederstreckte und von da an als Lohn für ihre Taten das Zeichen der Sonne auf ihrem Haupt trug, wurde sie von Gaia als die Eine erkannt, die die Göttin der Liebe genannt wurde. Die Eine, die das Ende bringt, und die Eine, die den Frieden bringt. Von da an war er ihr Ross und Begleiter.
So ging es weiter. Seite für Seite. Die Göttin der Liebe und Gaia suchen, finden und bezwingen die Bösen. Gähn. Ich tappe voll im Dunkeln, wer oder was die Bösen sind oder sein sollen. Menschen, Bestien oder etwas ganz anderes?
Der Prophet, eine Frau namens Calideya, lässt den Leser, also mich, völlig im Regen stehen. Schon auf Seite zwanzig beginne ich quer zu lesen, werde das Gefühl nicht los, dass ich ein Märchen lese. Eine Geschichte, geschrieben für Kinder, die in eine Welt geboren werden, in der die Monster zur traurigen Wahrheit gehören. Ich blättere die Seiten durch, auf der Suche nach einem interessanten Wort, das mich dazu bewegen könnte, inne zu halten und mehr erfahren, lesen zu wollen. Diese Göttin der Liebe entwickelt auf ihrer Reise mit Gaia übermenschliche Fähigkeiten. Kann mit Gedankenkraft Energiewellen, wie Elektrizität aus ihrem Körper abfeuern. Also es ist so, wie ich es mir schon gedacht habe. Es bleibt bis zum Ende ein Märchen.
Mehr nicht. Die verblüffende Ähnlichkeit mit meiner eigenen Gestalt, die Tattoos, Gaia, der grüne Teddybär, der sogar fliegen kann. Das alles ist nicht mehr als ein Zufall. Genauso, wie die Tatsache, dass ich keine Ahnung habe, wo das Märchenbuch hergekommen ist, wer es in meinen Stapel geschmuggelt hat. Vielleicht habe ich es aber auch selbst zufällig aus dem Regal genommen. Klein genug wäre es ja, sich unter den anderen Wälzern zu verstecken.
Alles Zufall und ich bin müde. Zu müde, um noch mehr Märchen zu lesen. Morgen beginnen die Prüfungen, das ist die Realität. Es ist Zeit, ins Bett zu gehen.
Ich lösche das Licht der kleinen Stehlampe neben mir. Als wäre sie ein treuer Begleiter, seufzt sie leise, als ich ihr den Strom abstelle. Fast so, als wäre sie traurig, dass ich sie jetzt alleine
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