Verleumdung
sie hatte für heute schon genug angestrengt gelächelt.
»Wäre die nicht was für dich?«, hörte sie den Doktoranden fragen.
»Wie kommst du denn darauf? Na ja … hübsch ist sie natürlich schon.«
»Ach, du kennst die Gerüchte noch gar nicht? Sie soll total auf alte Männer stehen. Und zwar richtig alte!«
Jetzt lachten sie, und Linnea wandte sich verärgert wieder dem Tisch zu. Sie hörte nun bereits zum vierten Mal an diesem Morgen eine Variante des immer gleichen Witzes. Und natürlich war ihr klar, dass sie sich über die gestrige Ausgrabung am Lammefjord lustig machten, die sich anscheinend bereits herumgesprochen hatte. Beim ersten Mal hatte sie noch zu erklären versucht, dass sie keineswegs behauptet habe, die Leiche vom Lammefjord sei mehrere Tausend Jahre alt. Sie hatte lediglich darauf hingewiesen, dass das Skelett seinem Zustand nach zu urteilen bedeutend älter sei als der seit einem Monat vermisste Drogenabhängige, den nun alle gefunden zu haben glaubten. Und dass sie überdies einen Gegenstand entdeckt habe, der ihrer Überzeugung nach eine wertvolle Antiquität war.
Aber die Witzbolde hatten ihre Erklärung natürlich geflissentlich überhört und weiter ihre Witze gerissen, über die sie allmählich nicht mehr lachen konnte. Vielleicht hatte sie einfach zu lange außerhalb Dänemarks gelebt, um diese Art von Humor zu verstehen. Er erforderte zumindest eine gewisse Eingewöhnungsphase. Möglicherweise waren einige ihrer fröhlichen Kollegen aber auch einfach nur Nervensägen, und bevor ihr niemand das Gegenteil bewiesen hatte, tendierte sie eher zu dieser Annahme.
7
L innea beugte sich wieder über den Tisch und vertiefte sich in ihre Arbeit. Viel gab es in diesem Fall nicht zu beachten. Sie musste lediglich die Standardprozedur für eine forensisch-anthropologische Untersuchung durchführen. Sie untersuchte Alter, Geschlecht, Körperbau sowie die ethnische Zugehörigkeit der Leiche. Zusätzlich analysierte sie die Resultate der Röntgenuntersuchung, mittels derer man in manchen Fällen leichter auf wichtige Verletzungen und Traumata stieß.
Zu den ersten Dingen, die man im Studium lernte, gehörte die Analyse der Knochen, die im Laufe eines Lebens alters- und geschlechtsspezifische Veränderungen durchliefen. Das Geschlecht ließ sich anhand des Beckenrings und des Schädels erkennen. Das Alter konnte man bestimmen, indem man die Knochenverbindung des Schambeins und die Verbindung der Gelenkköpfe mit den langen Röhrenknochen untersuchte. Die ethnische Zugehörigkeit zu ermitteln erforderte dagegen eine Beurteilung der Morphologie aller Knochen, insbesondere des Schädels. In dem vorliegenden Fall bestand kein Zweifel daran, dass der Tote männlich war und vermutlich aus dem Nahen Osten stammte. Nachdem sie ihre Ergebnisse mit den Schemata und Berechnungsformeln auf dem Computer abgeglichen hatte, gab Linnea auch die anzunehmende Größe, das Alter, den Körperbau und die übrigen Merkmale ein. Obwohl das Skelett nach der langen Zeit in der Erde ziemlich mitgenommen war, war das alles relativ unkompliziert – jedenfalls verglichen mit dem, was sie in der Vergangenheit erlebt hatte.
In Ruanda war sie bei der Öffnung von Massengräbern dabei gewesen, in denen mitunter Hunderte von Leichen dicht an dicht in einem Grab gelegen hatten; in der Regel Frauen und Kinder, die man mit stumpfen Waffen erschlagen hatte. Im zweiten Jahr ihres Studiums hatte sie sich nach Aufforderung ihres Professors für die Expertenteams beworben, die im Auftrag des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda entsandt wurden. Das war einige Jahre nach dem Völkermord. Sie wurde gemeinsam mit einer Gruppe von Rechtsmedizinern, forensischen Anthropologen und Odontologen dorthin geschickt, um die Opfer der Kriegsverbrechen zu finden, ihre sterblichen Überreste zu identifizieren, falls es möglich war, in jedem Fall aber die Todesursachen beziehungsweise Tötungsmethoden festzustellen. Es war das erste Mal gewesen, dass sie die Forensische Anthropologie in der Praxis erlebte – ein Sprung ins kalte Wasser. Die Toten schienen allgegenwärtig zu sein, sogar in der Luft, die Linnea und ihre Kollegen umgab. Jeden Morgen suchten sie sich einen Ort im Freien zum Frühstücken. Sie gewöhnte sich schnell an, vor dem Essen ihren Schutzanzug abzustreifen, damit kein verwestes Gewebe in die Lebensmittel gelangte. Dem Leichengestank entkam man allerdings nicht. Er hing sogar in ihrer Unterwäsche und ließ sich
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