Verleumdung
sie sich dabei ertappte, verärgert darüber zu sein, immer weiter zu graben und nichts zu finden – und sich schließlich zu freuen, wenn sie tatsächlich menschliche Überreste fand.
Sie nahm einen Pinsel und beugte sich vor.
»Hierher!«, rief sie einem der Techniker zu. »Ich brauche eine Dokumentation.«
Der Fundort war bereits gründlich und aus allen Winkeln von der Spurensicherung fotografiert worden, bevor Linnea eintraf. Und auch sie hatte den Fotografen inzwischen schon einige Male bemüht. Doch nun hatte sie etwas Neues entdeckt. Einen Gegenstand, der unmöglich ein Knochen sein konnte, aber dennoch zur Leiche gehören musste. Sie deutete eifrig mit dem Finger darauf, und der Fotograf ging ans Werk. Dann machte sie sich daran, mit dem großen Pinsel die Erde rundherum zu entfernen. Es waren Momente wie dieser, die ihre Arbeit so bereicherten. Mit dazu beizutragen, dass ein Verbrechen nicht unsichtbar blieb: ein Opfer, das vom Mörder vergraben wurde, Massengräber mit Frauen und Kindern, die im Bürgerkrieg erschossen wurden, hastig verscharrte Opfer von brutalen Folterknechten. All das waren Versuche, Menschen aus der Geschichte herauszuschreiben. Ihre Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass diese Versuche nicht gelangen.
»Haben Sie was gefunden?«
Bodilsen beugte sich erneut über die Ausgrabungsstelle, und diesmal klang er geradezu neugierig. Linnea nickte und entfernte die letzte Erde von dem Gegenstand.
»Ich glaube, das wird Sie interessieren.«
Vorsichtig schob sie einen Spachtel unter ihren Fund und löste ihn aus dem Boden. An der einen Seite haftete noch immer etwas Erde, die andere war vollkommen freigelegt.
»Das lag schräg unter dem linken Schenkelknochen. Muss zur Leiche gehören. Davon abgesehen, habe ich nämlich nur menschliches Material in Skelettnähe gefunden.«
»Aber was ist das?«
Sie hob den Gegenstand vorsichtig an, damit Bodilsen ihn von Nahem betrachten konnte. Er maß nicht mehr als ein paar Zentimeter auf jeder Seite, war höchstens einen Zentimeter dick, und farblich war er kaum von der umliegenden Erde zu unterscheiden. Ein weniger geschultes Auge hätte ihn gar nicht bemerkt.
»Das gehört nicht gerade zu meinem Spezialgebiet. Aber diese Einkerbungen hier sehen aus wie Keilschrift. Sie wissen schon, die Buchstaben, die man in biblischer Zeit in Babylon und so verwendete.«
»Babylon?«
Sie nickte und kratzte behutsam die restliche Erde von der Rückseite. Vielleicht befand sich eine Zeichnung darauf, oder noch mehr Schrift. So war es jedenfalls bei den Tafeln gewesen, die sie letztes Jahr im British Museum gesehen hatte. In der Ausstellung hatte es davon Hunderte in allen erdenklichen Größen gegeben. Sie dienten damals allen möglichen Zwecken: von Quittungen über den Erhalt von Vieh über religiöse Verordnungen bis hin zu Opfergaben, die man den Toten ins Grab legte, um böse Geister zu vertreiben. Das zugleich mystische und ornamentale Aussehen der Keilschrift hatte Linnea stark fasziniert, und sie hatte überlegt, sich im Museumsshop die Reproduktion einer Tafel als Halskette zu kaufen.
»Das ist eine Tontafel«, fuhr sie fort. »Ich schätze, sie ist drei- bis viertausend Jahre alt.«
Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, wurde ihr klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie hatte zu eifrig, zu interessiert geklungen, war zu sehr darauf erpicht gewesen, etwas Wichtiges zu sagen. Innerhalb kürzester Zeit würden sich die anderen in ihren Grüppchen das Maul zerreißen, während sie den Waldboden nach weiteren Spuren absuchten. Sie würden flüstern und gedämpft über die Expertin lachen, die eigens aus den USA abgeworben worden war und doch keine Ahnung hatte.
Bodilsen sah sie völlig fassungslos an.
»Sie wollen mir also erzählen, dass hier im Lammefjord eine viertausend Jahre alte babylonische Leiche liegt?«
Montag, 5. Juli
6
W ir deuten die stumme Sprache des Skeletts«, hatte Linneas Professor in Stanford immer gesagt. »Die Leute fragen oft, ob es überhaupt sinnvoll ist, eine Leiche, die lange in der Erde lag, zu obduzieren und zu untersuchen. Aber es ist nie zu spät. Ganz gleich, wie verwest der Tote auch sein mag – es ist nie ganz unmöglich, eine Todesursache oder Todesart zu bestimmen. Natürlich wird es immer schwieriger, je mehr Zeit vergeht. Doch selbst wenn nur noch das Skelett übrig ist, lassen sich Spuren finden. Und nicht gerade selten sogar die wichtigsten Spuren überhaupt – denn ein Skelett lügt
Weitere Kostenlose Bücher