Verleumdung
späteren Gebrauch in ein dreidimensionales Bild einordnen konnte. Es wäre ohnehin besser gewesen, man hätte sie früher hinzugerufen. Denn dann hätte sie prüfen können, ob sich an diesem Ort noch weitere Gräber verbargen. Eine Sonde oder eine kleine Schaufel wären besser geeignet gewesen. Doch die örtliche Polizei hatte bereits mit dem Spaten gewütet und die obere Schicht von Erde, Blättern und Astresten entfernt, die schätzungsweise fünfzehn Zentimeter tief gewesen war. Anschließend hatten sie eine Rinne rings um den Ort gegraben, wo sich die Leiche ihrer Vermutung nach befand. An dieser Stelle war nun ein Loch von etwa einem Meter Tiefe, zwei Metern Länge und anderthalb Metern Breite entstanden. Offensichtlich hatten sie auch versucht, eine Plane unter die Erde zu schieben, um sie anzuheben, waren aber glücklicherweise im letzten Moment davon abgehalten worden. Denn das hätte jeden Ansatz zerstört, anhand einer gründlichen Fundortuntersuchung festzustellen, was geschehen war.
»Können Sie schon etwas sagen?«
Linnea ignorierte die Frage und arbeitete konzentriert mit ihrer Schaufel weiter. Sie hatte bereits den Großteil eines Arms freigelegt und arbeitete sich nun zum Rest des Skeletts vor, dessen Konturen sie unter der oberen Erdschicht ausmachen konnte. Es sah aus, als sei die Leiche vollständig skelettiert, und alle Knochen schienen vorhanden. Nur das eine Bein fehlte. Vermutlich war es durch eine Erdverschiebung an die Oberfläche gebracht worden und hatte so die Hunde auf die Leiche aufmerksam gemacht. Von der Kleidung war nichts mehr vorhanden. Aber es war noch zu früh, um festzustellen, ob die Leiche ohne Kleidung hier vergraben wurde oder ob die Textilien vom Leichengift aufgelöst worden waren. Nach einer Weile sah sie zu dem Mann auf, der schätzungsweise Anfang fünfzig war und zu den wenigen gehörte, die ihre Jacke trotz der Hitze nicht ausgezogen hatten. Vermutlich war dies der Leiter der Voruntersuchung, Vizepolizeikommissar Richard Bodilsen.
»Wie lange dauert es, bis man so aussieht?«, fragte er weiter. »Im Polizeikreis Holbæk wird seit etwa einem Monat ein Drogenabhängiger vermisst.«
Linnea zuckte mit den Schultern.
»Das hängt von so vielen Faktoren ab. Bodenbeschaffenheit, Klima, wie tief die Leiche in der Erde lag. Manchmal dauert es ein paar Jahre. Ich habe aber auch schon von Fällen gehört, bei denen die Verwesung innerhalb weniger Tage stattgefunden hat, weil das Wetter gut war und die Leiche direkt unter der Erdoberfläche lag.«
»Na, das hilft uns natürlich nicht viel weiter«, erwiderte Bodilsen. »Dieser Vermisste scheint jedenfalls ein ziemlich runtergekommener Typ zu sein. Die Kollegen in Holbæk hatten ihn vorgeladen, damit er vor Gericht aussagt, aber er ist nie aufgetaucht. Sie gehen davon aus, dass er tot ist. Er hatte seinen Arbeitgeber, einen Umzugsunternehmer, angezeigt, weil der Diebesgut bei sich lagerte. Das würde ja alles gut zusammenpassen.«
Linnea wandte sich erneut dem Grab zu. Eigentlich war sie nicht zimperlich, aber irgendetwas an dem Tonfall von Bodilsen störte sie. Vielleicht war es der mangelnde Respekt gegenüber dem Toten, oder dass es ihm völlig gleichgültig schien, was sie herausfand.
Sie sah erneut zu ihm auf.
»Das würde sich in der Statistik gut machen, meinen Sie nicht? Ein identifizierter Vermisster, statt eines neuen, unaufgeklärten Mordes, der Sie zusätzlich belastet?«
Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
»Aber das können Sie vergessen. Diese Leiche liegt schon lange in der Erde. Und zwar richtig lange.«
Bodilsen öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch im selben Moment klingelte sein Handy. Er ging ein Stück weiter, um das Gespräch anzunehmen.
Manchmal zehrte es an den Nerven, über eine Leiche gebeugt zu stehen, während ihr der Schweiß in die Augen lief, und dabei so viel wie möglich von dem aufzudecken, was geschehen war. Sie war in jeder Phase dieser Arbeit angespannt, anders ging es gar nicht. Wenn sie vor Ort im Einsatz war, spürte sie weder Entsetzen noch Ekel bei dem, was sie sah. Der Anblick brutaler Verletzungen an einer stark verwesten Leiche erfüllte sie in erster Linie mit Neugier und dem Wunsch herauszufinden, welcher Gegenstand die Schädigungen verursacht hatte. Sie konnte es sich nicht leisten, genauso empfindlich auf Leichen und Knochen zu reagieren wie die meisten anderen, und das lag nicht daran, dass sie abgestumpft war. Obwohl es manchmal so wirken konnte, wenn
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