Verleumdung
seine Unruhe bemerkt hatte. Dann machte er mit den Sit-ups weiter. Die körperliche Erschöpfung half ihm, wenigstens für einen Moment Ruhe und Frieden zu finden.
8
L innea hatte noch fast eine Stunde gebraucht, um die letzten Untersuchungen am Skelett abzuschließen. Während der Arbeit hatte sie die Ergebnisse auf ein Diktiergerät gesprochen, um sie von einer Sekretärin abtippen zu lassen, so dass sie der Polizei bereits am Abend den vorläufigen Untersuchungsbericht mailen konnte.
Sie bekam mit, wie die Tür zum Labor erneut geöffnet wurde.
»Haben Sie schon einen Todeszeitpunkt für uns?«
Vizepolizeikommissar Richard Bodilsen kam direkt auf sie zumarschiert. Eine der Sekretärinnen musste ihm erzählt haben, wo er Linnea finden konnte. Er blieb etwas zu nahe vor ihr stehen, so dass sie seinen säuerlichen Schweiß riechen musste.
»Oder lassen Sie mich raten«, fuhr er fort, »fünftausend Jahre minus ein paar Stunden?«
Er stieß ein kurzes, heiseres Lachen aus, das schließlich in ein ebenso kurzes, aber noch heisereres Husten überging.
»Ihr Humor ist nicht gerade originell. Und wenn ich mir Ihren Husten so anhöre – Sie sollten endlich das Rauchen lassen. Dafür ist es nie zu spät, wissen Sie.«
Er glotzte sie einen Moment lang an, ging dann aber nicht weiter auf ihre Bemerkung ein und schlenderte zum Obduktionstisch hinüber. Er beugte sich über das Skelett und streckte die Finger aus, als wolle er die Knochen berühren, zog sie dann aber wieder zurück. Sie nutzte die Gelegenheit, sich noch weiter von ihm zu entfernen, und ging zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen.
»Oder ist die Untersuchung etwa noch nicht abgeschlossen? Wir erwarten keine wissenschaftliche Abhandlung, nur dass Sie es wissen.«
Linnea hatte ihm den Rücken zugewandt und drehte sich blitzschnell um. Am liebsten hätte sie ihn angezischt und gefragt, ob er Angst vor Frauen mit einer höheren Ausbildung als er selbst habe. Aber dann fiel ihr auf, dass er ihr zu keinem Zeitpunkt direkt in die Augen gesehen hatte. In Wirklichkeit schien er eher eingeschüchtert von ihr zu sein. Also trocknete sie sich die Hände ab und sagte nur: »Mit der Identität des Opfers kann ich noch nicht dienen. Die Zähne sind gerade zur Analyse im Institut für Forensische Odontologie. Vielleicht können die Ihnen weiterhelfen, sobald sie eine Zahnkarte erstellt haben. Kann ja sein, dass sie mit einer vermissten Person übereinstimmt. Aber ich kann Ihnen jetzt schon berichten, dass es sich um einen Mann handelt, der ungefähr eins achtzig groß war, relativ kräftig gebaut, Mitte bis Ende dreißig und aus dem Nahen Osten stammte. Ich würde behaupten, dass diese Zähne nie eine klassische dänische Schulzahnpflege gesehen haben.«
Diesmal verkniff Bodilsen sich seine dummen Kommentare. Linnea ging erneut zu dem Skelett und zeigte auf den Schädel, den Bodilsen kurz zuvor nicht zu berühren gewagt hatte. Sie nahm ihn hoch, drehte ihn halb und hielt ihn Bodilsen näher hin, als ihm sichtlich lieb war.
»Hier haben Sie natürlich ein einleuchtendes Indiz. Möglicherweise sieht dieser Riss aus wie eine zufällige Beschädigung, die durch die lange Zeit im Waldboden entstanden ist. In Wirklichkeit aber handelt es sich um ein Einschussloch. Er wurde aus nächster Nähe erschossen. Direkt über dem linken Ohr. Über das Kaliber kann ich noch nichts sagen. Möglicherweise finden die Männer von der Spurensicherung ja etwas, wenn sie den Fundort durchsuchen. Die Schussrichtung und alles Weitere können Sie dann in meinem Bericht nachlesen.«
Linnea sah ihm direkt in die Augen.
»Wenn Sie mich fragen, wirkt das wie eine eiskalte Hinrichtung.«
Linnea legte den Schädel wieder auf den Tisch zurück. Dann fuhr sie mit ihrem Bericht fort.
»Eigentlich ist der Rest des Skeletts sogar noch interessanter. Oder zumindest geheimnisvoller. Ich habe Brüche am rechten Wangenknochen und Oberkiefer festgestellt, des Weiteren am linken Ellbogen und an der Speiche, am Wadenbeinknochen und an zahlreichen Rippen auf beiden Seiten. Alles infolge von stumpfer Gewalt.«
»Um den Todeszeitpunkt herum?«
»Das will ich meinen. Möglicherweise hätte das allein schon als Todesursache gereicht – aber man hat ihm ja auch noch in den Kopf geschossen. Andererseits sind die Verletzungen so unregelmäßig verteilt und das Muster ist so unklar, dass es auch andere Erklärungen als bloße Gewalteinwirkung dafür geben könnte. Zuerst dachte ich an Folter.
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