Verleumdung
nie!«
Mit diesen Worten hatte er seine erste Vorlesung der Osteologie, der Lehre von den menschlichen Knochen, eingeleitet. Und später hatte er sie zu Beginn jeder einzelnen Sitzung wiederholt, bei der sie sich trafen, um Knochen zu identifizieren und zuzuordnen. Das wäre Linneas wegen gar nicht nötig gewesen, denn sie hatte seine Worte gleich beim ersten Mal wie ein Mantra verinnerlicht, so übertrieben sie auch klingen mochten. Derselbe Professor schockierte immer wieder damit, dass er an den Knochen zu lecken pflegte, die er untersuchte. Während die Nichteingeweihten blass wurden und es für einen morbiden Scherz hielten, wussten seine Studenten, dass er in Wirklichkeit einen guten Grund dafür hatte. Denn wenn man einen Leichenfund machte, war es mitunter schwer, zwischen Knochenresten und Steinchen oder anderem organischen Material zu unterscheiden, das nichts mit dem Skelett zu tun hatte. Knochen besaßen jedoch eine poröse Oberfläche, die man unmittelbar erkannte, wenn man sie mit der Zunge berührte – denn der Knochen saugte sich sofort an ihr fest.
Linnea musste bei dieser Erinnerung lächeln. Sie stellte ihren Latte Macchiato auf dem Tisch ab, um mit der Arbeit fortzufahren. Dann besann sie sich eines Besseren, nahm einen weiteren Schluck und platzierte den Becher stattdessen neben einem Waschbecken. Nachdem aus ihrer Eilanstellung am Rechtsmedizinischen Institut eine etwas längere Schwangerschaftsvertretung geworden war, hatte Linnea versucht, sich an den Kaffee zu gewöhnen, den die übrigen Angestellten hier auch tranken: entweder jenen Thermoskannenkaffee, den die Sekretärinnen in regelmäßigen Abständen in den Konferenzraum stellten, oder den Automatenkaffee aus dem Keller neben dem Leichenschauhaus. Obwohl die Qualität variieren konnte, fand Linnea beide Sorten einfach ungenießbar. Und so hatte sie sich schließlich mit Simone, der einzigen jungen Sekretärin am Institut, zusammengetan, um einen guten Kaffee zum Mitnehmen zu finden. Die Gegend um das Panum Institut und das Rigshospital war allerdings ein merkwürdiges Niemandsland zwischen dem Szene-Teil von Nørrebro und dem mondänen Østerbro. Am Ende hatten sie sich darauf geeinigt, auf dem Weg zur Arbeit abwechselnd in einem kleinen Café in der Elmegade Kaffee zu holen. Zumindest an einem Tag wie diesem, an dem sie dringend eine Aufmunterung gebrauchen konnte.
Sie kehrte zum Obduktionstisch zurück und betrachtete erneut die leeren Augenhöhlen des Skeletts, das vor ihr lag und sie angrinste. Sie befand sich im osteologischen Labor, das auf dem langen Gang der Abteilung für Forensische Anthropologie am Panum Institut lag. Ein Großteil ihrer Arbeit fand zurzeit allerdings auf der gegenüberliegenden Seite des Tagensvej statt, am Rechtsmedizinischen Institut des Rigshospitals. Sie hoffte sehr, dass sie ihre Vertretungsstelle dort bald gegen eine feste Anstellung im Labor für Forensische Anthropologie eintauschen konnte. Denn hier – umgeben von grinsenden Schädeln und Pappkartons mit nicht identifizierten Knochenresten – fühlte sie sich wie zu Hause.
Sie hatte das Skelett vom Lammefjord in eine natürliche Position gebracht, nachdem sie es von pflanzlichen Resten und den letzten Hautpartikeln befreit hatte. Alle Knochenteile vom Fundort lagen nun anatomisch korrekt angeordnet, mit dem Schädel als Krönung. In Anbetracht dessen, wie ihr heute Morgen beim Aufwachen zumute gewesen war, war sie mit einer verblüffenden Energie an die Arbeit gegangen. Ausnahmsweise hatte es die ganze Nacht und auch am Vormittag geregnet. Das hatte die Temperatur ein wenig gesenkt, und das Wetter war immer noch grau. Während die meisten Menschen über den plötzlichen Wetterumschwung murrten, passte er Linnea ziemlich gut. Nach dem gestrigen Tag war sie noch immer schlecht gelaunt. Der bloße Gedanke daran, auf dem Weg zur Arbeit glücklichen Menschen zu begegnen, die um die Seen oder zum Fælledpark schlenderten, hatte sie fast zur Verzweiflung gebracht.
»Wer rasselt denn da drinnen mit den Knochen?«, hörte sie plötzlich eine Stimme sagen.
»Ach, das ist diese Vertretung, Kirkegaard.«
Erst jetzt begriff sie, dass die Tür zum Labor noch immer offenstand. Den Stimmen nach zu urteilen, unterhielt sich draußen auf dem Gang gerade einer der Doktoranden mit einem der forensischen Anthropologen. Sie hörte die Clogs der Männer über den Boden klappern und hoffte, dass sie nicht auch noch den Kopf zur Tür hereinstecken würden, denn
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