Verleumdung
nicht wieder auswaschen, wenn sie neun Stunden lang immer tiefer in den Bergen gegraben hatten – in einem Land, von dem es hieß, es gäbe dort nicht einen Hügel, unter dem sich keine Leiche verbarg.
Aber es hatte tatsächlich einen tieferen Sinn gehabt, einen solch extremen Einsatz mitzuerleben, der sie bei ihrer Arbeit bis heute verfolgte. Sie hatte das Gefühl, als könne sie sogar den Opfern der grausamsten Verbrechen einen kleinen Teil ihrer Würde wiedergeben, wenn sie die einzelnen Knochen ausgrub und in einer anatomisch korrekten Position vor sich ordnete.
Es war nicht immer sicher, ob sie ihnen zu einer Identität verhelfen konnte, aber sie konnte ihnen immerhin ein wenig Menschlichkeit zurückgeben.
*
Das Handy klingelte. Jonas legte die Hanteln beiseite und setzte sich auf. Der Schweiß lief ihm von der Stirn. Er wusste nicht, wie lange er schon trainiert hatte, doch das Brennen in seinen Muskeln deutete darauf hin, dass er die übliche Trainingsstunde bereits lange überschritten hatte.
»Jonas, bist du da?«
Lex hatte ihre ungeduldige Stimme aufgesetzt. Er richtete sich ganz auf und wischte sich den Schweiß ab. Dann riss er sich zusammen.
»Entschuldige, ich hatte vergessen, dass das Headset noch eingestöpselt war.«
»Wie ist die Übergabe gelaufen? Bist du wieder zu Hause?«
»Alles im Griff. Wir sehen uns gleich, ja?«, log er mit klopfendem Herzen.
Er wollte gleich wieder auflegen, hatte gehofft, sie abwimmeln und aufhalten zu können, bevor sie alles wieder zerstörte – doch sie war einfach zu schnell.
»Hast du die Schlagzeilen gesehen?«
Da war es schon. Er merkte, wie sich der alte Schweiß mit neuem mischte. Hastig sah er sich im Fitness-Studio um, aber er war allein.
»Was meinst du?«
Er versuchte, seine Stimme ganz natürlich klingen zu lassen. Unbekümmert.
»Sie haben eine Leiche im Lammefjord gefunden.«
»Meinst du, das ist er?«
Seine Frage kam etwas zu schnell, und sie seufzte. Er konnte hören, wie sie mit sich kämpfen musste, um ihren pädagogischen Tonfall beizubehalten.
»Natürlich ist er es, Jonas.«
Nach dem Telefonat saß Jonas eine Weile da und versuchte, ruhig zu atmen und einige der Entspannungsübungen zu machen, die er gelernt hatte. Jonas bemühte sich, innerlich das Mantra des Psychologen herunterzubeten: Du bist zu Hause in Dänemark. Du bist in Sicherheit. Niemand will dir etwas Böses.
Das half ein wenig, zumindest um die schlimmste Panik in den Griff zu bekommen. Seit er heute Morgen im Autoradio die ersten Nachrichten gehört hatte, plagten ihn die vielen Gesichter Firaz’ erneut. Erst sah er den selbstsicheren, höhnisch grinsenden Dolmetscher in Militäruniform vor sich, dann den etwas zu gut gekleideten Asylbewerber mit seinem florierenden Geschäft, der Jonas’ Ehrgeiz und Enttäuschung gezielt instrumentalisiert hatte, und zuletzt … zuletzt sah er stets die Angst in dem sonst so emotionslosen Gesicht.
Jonas war gerade mit einer neuen Lieferung zu Hause in Virum losgefahren, als er die Nachrichten gehört hatte. Er war von einer fast manischen Panik ergriffen worden, hatte die Abfahrt nach Herlev verpasst und war stattdessen weiter nach Süden gefahren. Zunächst planlos, doch als er bemerkte, dass er aus reiner Routine in Richtung Faxe Ladeplads abgebogen war, erinnerte er sich an den alten Brunnen auf ihrem Sommerhausgrundstück. Er konnte jetzt auf keinen Fall so weitermachen wie geplant. Die Ware in Herlev abzuliefern war unmöglich. Vielleicht waren sie ihm sogar schon auf der Spur. Dies war ein Ausnahmezustand, und das einzig Sinnvolle schien ihm, die Ware an einem Ort zu verstecken, wo man sie niemals finden würde. Nach einer halben Stunde hatte er alle Spuren im Wagen beseitigt, und die körperliche Anstrengung und das Gefühl zu handeln beruhigten ihn ein wenig. Anschließend fuhr er nach Norden zurück, erleichtert, aber zugleich von einer nervösen Energie erfasst, die er nur durch einen Besuch im Fitness-Studio loswerden würde.
Plötzlich fiel ihm ein, dass er genau das damals auch über Firaz gedacht hatte: dass man ihn nie finden würde. Und jetzt war der Dolmetscher zurückgekehrt, um Jonas’ Leben ein weiteres Mal in eine Hölle zu verwandeln. Allein der Gedanke daran reichte aus, um Firaz’ kaltes Lächeln und die Hand mit dem Victory-Zeichen wieder vor seinem inneren Auge auftauchen zu lassen. Er sah sich um, vergewisserte sich, dass niemand – inzwischen war er nicht mehr der Einzige im Studio –
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