Verleumdung
Klaptræet und dem Jazz House. Linnea hatte das Gefühl, fünfzehn Jahre zurückversetzt zu werden, und sie ertappte sich dabei, wie sie es in vollen Zügen genoss. Lex erzählte von ihrem jetzigen Job als erfolgreiche Kunstberaterin. Sie hatte sich nicht groß verändert. Ihre Kleidung war teurer und schicker geworden. Doch sie hatte schon immer einen stilsicheren und exklusiven Geschmack gehabt, der ihr Budget eigentlich übersteigen müsste, damals wie heute, und der sie attraktiver aussehen ließ, als sie, ganz objektiv betrachtet, war. Mit ihrer dominanten Art konnte sie einen schon überrumpeln, aber genau aus diesem Grund hatte Linnea sich in ihrer Nähe stets sicher gefühlt. Lex war intelligent und unterhaltsam und eine gute Organisatorin. Das führte dazu, dass man mit ihr zusammen nicht nur in guter Gesellschaft war. Nein, man fühlte sich gerade so, als sei man ein Mitglied im exklusivsten Club der Welt, der eigentlich schon längst niemanden mehr aufnahm.
»Dir könnten ein paar Beratungsstunden doch bestimmt auch nicht schaden, gratis natürlich – wenn das da alles ist, wozu du dich hinreißen lassen konntest!«
Lex zeigte auf die Wand zum Schlafzimmer. Sie hatte die vorläufig einzige Dekoration in Linneas Wohnung erblickt: eine Reproduktion von Rembrandts Anatomiebild. Es stammte tatsächlich noch aus der Zeit, als sie und Lex regelmäßig donnerstags bis samstags in die Szenebars im Zentrum von Kopenhagen eingefallen waren. Linnea war nach einem weiteren Champagnerrausch verkatert neben einem Typen aufgewacht, mit dem sie schon vor ein paar Monaten etwas angefangen und den sie eigentlich kurz darauf in die Wüste geschickt hatte. An jenem Tag war sie mit einer bis dato unbekannten Abscheu über das ziellose Dasein, das sie lebte, aufgewacht und hatte sich davongeschlichen. Auf dem Heimweg war sie in der Ravnsborggade in einer Kiste vor den Trödelläden auf einen vergilbten Druck eben jenes Rembrandt-Gemäldes gestoßen, das in ihrer Kindheit einen solch großen Eindruck auf sie gemacht hatte. Wenn das kein Wink des Schicksals war! In einem Anfall von Sentimentalität hatte sie es gekauft. Und gleichzeitig war ihr Fund auch so etwas wie ein Alarmsignal gewesen, das sie an alte Zeiten erinnerte, als sie noch Zukunftsträume hatte. Plötzlich war es fast beschlossene Sache, in die USA zu gehen, oder zumindest hatte sie sich das Bedürfnis eingestanden, so weit wie möglich wegzukommen und etwas Vernünftiges in Angriff zu nehmen. Seit diesem Tag trug sie das Bild mit sich herum. Die Reproduktion war ein relativ billiger Kupferstich aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, aber sie hatte sie rahmen lassen und seither an jedem Ort, an dem sie wohnte, aufgehängt – zur Verwunderung ihrer häufig wechselnden Partner.
»Deine Arbeit ist eine Sache«, hatte einer von ihnen zu ihr gesagt. »Findest du es trotzdem nicht ein bisschen morbide, sich auch in der Freizeit mit solchen Dingen zu umgeben?«
Sie war sich durchaus bewusst, dass manche sie für einen Freak hielten. Aber Linnea zeigten Fragen wie diese nur, dass diese Menschen nichts verstanden hatten. Denn natürlich war ihre Tätigkeit für sie mehr als nur eine Arbeit. Sie war eine Passion, eine Antriebskraft in ihrem Leben. Sonst hätte sie für Linnea gar keinen Wert gehabt. Sie hatte nie verstanden, wie andere es aushielten, die verschiedenen Lebensbereiche derart voneinander zu trennen. Wie konnte man denn so viel Lebenszeit auf eine Sache verschwenden, für die man nicht brannte? Witzigerweise wusste sie, dass es Lex genauso ging. Sie machte ebenfalls keine halben Sachen. Vielleicht war es in Wahrheit vor allem diese Eigenschaft, die sie bereits damals im Gymnasium miteinander verbunden hatte.
»Erinnerst du dich denn nicht mehr an das Bild?«, fragte Linnea. »Na ja, es ist bestimmt fünfzehn Jahre her …«
Sie stand auf, ging zu der Wand und zeigte auf den Anatomen, der auf der Darstellung gerade dabei war, den linken Unterarm der Leiche freizulegen.
»Eigentlich ist es ziemlich witzig, denn das Gemälde ist anatomisch nicht ganz korrekt. Laien erkennen das natürlich nicht gleich, aber auf dem Bild entspringen die Flexoren aus dem lateralen Epicondylus, obwohl es eigentlich der mediale Epicondylus sein müsste. Das ist natürlich Fachsimpelei, aber es amüsiert mich irgendwie.«
Sie wandte sich Lex wieder zu und bemerkte, dass diese ihr nicht mehr zuhörte. Sie saß noch immer auf dem Sofa und schien völlig in sich selbst versunken.
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