Verleumdung
Und als Lex zu ihr aufblickte, bekam Linnea mit, dass das Lächeln von ihren Lippen verschwunden war und ihre Augen feucht waren, als kämpfe sie damit, ihre Tränen zurückzuhalten.
»Stimmt etwas nicht? Ist was passiert?«
Sie ging zum Sofa und setzte sich neben Lex.
»Ich weiß nicht, vielleicht war es ein Fehler von mir. Es ist ja keine Art, dass ich dich hier einfach so überfalle. Hast du denn überhaupt Zeit?«
»So ein Quatsch! Meine Schicht fängt erst um zwölf an. Ich hatte sowieso nichts vor.«
Wie immer, hätte Linnea hinzufügen können. Ihre vielen und langen Schichten störten sie nicht, denn sie hatte ohnehin kaum ein Privatleben, für das sie ihre freie Zeit nutzen konnte. Doch sie sagte nichts. Im selben Moment brach es aus Lex heraus. Es ging um Jonas, ihren Mann. Linnea kannte ihn eigentlich nur von Facebook, wo Lex ihr Profil regelmäßig mit neuen Bildern aktualisierte, die ihre offensichtlich sehr harmonische und glückliche Ehe zur Schau stellten. Erst nach langem Zögern rückte Lex schluchzend damit heraus, was wirklich los war. Sie hatte seit Freitagnachmittag nichts mehr von Jonas gehört, und sie waren zuvor im Unfrieden auseinandergegangen. Über irgendetwas hatten sie sich gestritten. Obwohl Lex es nicht direkt sagte, ahnte Linnea, dass eine Affäre von Lex dahintersteckte, der ihr Mann auf die Schliche gekommen war. Auch das war eigentlich typisch für sie. Sie glaubte stets, dass sie alles auf einmal haben könne, oder besser gesagt, dass sie ein Recht darauf hätte, alles zu besitzen.
»Ich habe einfach keinen blassen Schimmer, wo er sein könnte.«
»Hat er das denn schon mal gemacht?«
»Natürlich nicht! Ich habe schon bei allen möglichen Leuten angerufen und war auch in Faxe Ladeplads. Also in unserem Sommerhaus. Aber da war er nicht. Niemand hat Jonas gesehen. Es ist jetzt schon sechsunddreißig Stunden her. Ich weiß einfach nicht, was ich noch machen soll.«
Lex wischt sich die Tränen ab und setzte dann ein gezwungenes Lächeln auf, als wolle sie das Ganze dennoch abtun.
»Warum gehst du nicht zur Polizei?«
»Tu ich doch. Du bist doch die Polizei!«
»Nicht direkt.«
Linnea versuchte gar nicht erst zu erklären, dass sie zwar in der Tat viel mit der Polizei zu tun hatte, aber weder bei der Polizei angestellt war, noch ein besonderes Verhältnis zu ihr hatte. Lex hatte solche Feinheiten noch nie gut unterscheiden können. Aber jetzt, da sie ihre kontrollierte Fassade fallen gelassen hatte, war ihr deutlich anzusehen, wie sie vor Unruhe fast verging. Sie traute sich nicht, die Polizei anzurufen, weil sie fürchtete, Jonas könne es irgendwie herausfinden und noch wütender auf sie werden, als er es ohnehin schon war. Gleichzeitig hatte sie eine Heidenangst davor, dass ihm etwas zugestoßen war oder er sich ihretwegen etwas angetan haben könnte.
»Du kennst sein Temperament ja nicht!«
Anschließend bettelte sie Linnea an, ob sie nicht ihre Kontakte anzapfen könne. Sie müsse doch jemanden bei der Polizei kennen, der herausfinden könne, ob etwas passiert sei. Ob Jonas irgendwo gefunden worden war, ob ihm etwas zugestoßen sei. Möglicherweise lag er nach einem Unfall im Krankenhaus, hatte das Bewusstsein verloren und konnte nicht sagen, wer er war. Oder wollte sie nicht kontaktieren. Linnea hatte insgeheim den Eindruck, dass Lex die Dinge dramatisierte. Am Ende versprach sie ihr aber doch, jemanden anzurufen.
»Unter der Bedingung, dass du morgen selbst zur Polizei gehst. Wenn du am Montag immer noch nichts von Jonas gehört hast, meldest du ihn als vermisst. Versprichst du mir das?«
Lex nickte eifrig und bedankte sich überschwänglich bei Linnea. Sie drückte ihr die Hand und erklärte, wie glücklich sie sei, dass sie beide sich wiedergefunden hätten. Dann nahm sie sich zusammen und stand auf.
»Du musst ja auch bald zur Arbeit!«
Sie holte ihre funkelnagelneue Marni-Tasche aus dem Flur und kramte ihr Handy hervor. Offenbar hatte sie mehrere Anrufe erhalten, die sie nicht gehört hatte. Sie warf Linnea einen hastigen Blick zu.
»Vielleicht ist es Jonas!«
Ihrem enttäuschten Gesichtsausdruck entnahm Linnea, dass es eine andere, unbekannte Nummer war. Jemand hatte sie im Laufe der letzten anderthalb Stunden, die sie zusammengesessen hatten, unzählige Male zu erreichen versucht. Lex rief die Nummer zurück und kam sofort durch. Sie gab lediglich einige ungläubige Laute von sich und wurde zunehmend blasser. Dann hielt sie eine Hand auf den Hörer
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