Verlieb dich nie in einen Vargas
eine Hand zur Faust und prügelte damit auf den Griff des Einkaufswagens ein, hämmerte immer weiter, und bei jedem Schlag fluchte er. Der Auffülljunge stand nun doch vom Boden auf.
»Miss?«, sagte er. »Möchten Sie, dass ich jemanden rufe?«
Emilio hob die Hand, schickte den Jungen in die Warteschleife. »Hat er ein Lieblingslied, Jude?«
»Ich habe keine … ich weiß es nicht.«
Hatte er eins?
Papi prügelte weiter auf den Wagen ein, und ich durchforstete meine Erinnerungen, so weit sie zurückreichten, auf der Suche nach einer Melodie, ein paar Zeilen, einer Strophe. Mein Gedächtnis bot mir fröhliche Geburtstagsständchen an, Erkennungsmelodien aus dem Fernsehen, Moms Tango- CD s, aber keine Erinnerung an etwas, das ich ihn hatte singen hören, nichts, wofür er je das Radio aufgedreht hätte.
Jeder hat ein Lieblingslied … Wieso kenne ich seins nicht?
»Ich sollte den Geschäftsführer holen«, sagte der Auffülljunge.
»Wir haben alles im Griff«, versicherte ihm Emilio. »Jude, sing etwas. Irgendetwas. Wir müssen ihn ablenken, ihn dazu bringen, sich zu beruhigen.«
Ich räusperte mich und begann Many a New Day aus dem Musical Oklahoma! zu singen, was Papi hoffentlich zu schätzen wissen würde, weil er doch auf dem Westerntrip war. Meine Stimme war zuerst unsicher, aber Papi hörte auf zu hämmern, lächelte sogar, und ich machte weiter.
Never have I wept into my tea over the deal someone doled me …
Am Ende meines Drogerie-Konzertdebüts ließ Papi den Einkaufswagen stehen, der nur wenige Augenblicke zuvor noch seine ganze Welt gewesen war. »Du hast die Stimme eines Engels, Juju. Wie kommt es, dass du nicht mehr singst?«
Ich zuckte mit den Schultern, aber tief in mir schlug die Scham ihre Klauen in meine Eingeweide. Ich hatte ihn manipuliert, ihn hereingelegt, wie man es mit einem kleinen Kind macht, das einen Wutanfall hat, und ihm ein neues, glänzendes Spielzeug angeboten, damit er endlich aufhörte.
»Nun, das solltest du aber.« Papi legte seinen Arm um meine Schulter. »Hast du Hunger, queridita ? Sollen wir uns etwas zu essen holen?«
Und einfach so lösten sich Wut und Verwirrung in Luft auf, und jeder im Laden kehrte zu seinen Vitaminpillen und Grußkarten und Aftersunlotionen zurück, als sei nichts passiert.
Ruhe folgte auf den Sturm, eine vorübergehende Entspannung, falsch und trügerisch.
So und nicht anders herrschte El Demonio .
5
»Woher weißt du so viel über Motorräder?« Ich hockte auf der Werkbank und öffnete eine Coladose. Jetzt, da Emilio seine Motorradflüsterershow beendet hatte, hoffte ich inständig, dass meine Tage als stumme Zuschauerin der Vergangenheit angehörten, insbesondere weil Papi sich hingelegt hatte, um ein Nachmittagsschläfchen zu halten, und Emilio den Tamponvorfall vom Vortag noch immer nicht erwähnt hatte und jede weitere herabschwebende Feder aus ungesagten Worten mich zermalmen würde.
Emilio zuckte mit den Achseln. »Mein Paps war Motorradfan. Und meine Onkel waren es auch. Von meinen Brüdern konnte dagegen keiner was damit anfangen.« Er erwiderte meinen Blick einen Moment lang, während sich so etwas wie ein Schatten auf sein Gesicht legte. Bedauern womöglich? Schuldgefühle? Ich schluckte meine eigenen hinunter und hoffte, er würde meine Schwestern nicht erwähnen.
»Was ist mit deinem Dad?«, fragte ich. »Fährt er immer noch?«
Emilio wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Er ist in Puerto Rico bei meiner Großmutter. Ich sehe ihn nur zu Weihnachten.«
»Wo ist deine Mom?«
»Sie ist hier bei mir.«
»Sie sind geschieden?« Ich erinnerte mich nicht daran, dass Celi je etwas davon erzählt hatte. Vielleicht war es noch frisch. »Tut mir leid.«
»Nein, sie sind noch zusammen. Sie sind bloß … seltsam.« Es sah aus, als wollte er noch mehr sagen, doch dann verflüchtigte sich der Schatten und er gab mir mit einem Nicken zu verstehen, ich solle näher kommen. »Sieh dir das an.«
Ich kniete mich neben ihn und spähte in das Innere der Maschine. Er zeigte auf ein Ziehharmonikateil unter dem Tank, das aussah wie ein riesiges V, dessen Enden von zwei identischen Metallplatten gedeckelt wurden.
»Weißt du, warum die Leute verschiedene Spitznamen für die Harleys haben, wie Panhead oder Shovelhead?«, fragte er.
»Das hier ist eine Panhead.« Das hatte ich als Allererstes nachgeguckt, keine Chance, dass ich es je vergessen würde.
»Ja, aber wieso?«
Ich nahm noch einen Schluck von meiner Cola,
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