Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verlieb dich nie in einen Vargas

Verlieb dich nie in einen Vargas

Titel: Verlieb dich nie in einen Vargas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Ockler
Vom Netzwerk:
Kinn auf meine Füße plumpsen, als wolle er mir zu verstehen geben: Können wir bitte wieder schlafen gehen? Bitte, bitte!
    Er war die ganze Nacht bei mir geblieben, und als er im Schein der Morgensonne sehnsüchtig mein Bett ansah, wollte ich nichts lieber, als mit ihm unter die Decke zu kriechen, mich zusammenzurollen und so zu tun, als wäre alles, was Mari und Mom mir erzählt hatten, bloß ein weiterer Albtraum, irgendein Worse-than-Worst-Case-Szenario, das mein Unbewusstes sich ausgedacht hatte.
    Aber jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, leuchtete die Zahl vor meinen Lidern auf. Die große Fünf-Null. Fünfzig Prozent.
    Ein Halb.
    Eine halbe Chance darauf, ein normales Leben zu führen, erwachsen zu werden, sich zu verlieben, zu heiraten und Kinder zu bekommen, oder vielleicht auch nicht zu heiraten, vielleicht nur ein paar gebrochene Herzen für das Buch zu sammeln. Aber auf die eine oder andere Art, lange genug zu leben, um davon berichten zu können.
    Eine halbe Chance auf den Tod. Ein langsames und quälendes Dahinschwinden. Den langen Abschied.
    Ich betrachtete meine Füße, die unter der Decke hervorguckten, meine Zehen, die in der Morgensonne schimmerten. Meine Zehennägel waren leuchtend grün und blau lackiert, und sie sahen aus wie diese kleinen Pfefferminzbonbons, die man im Restaurant zusammen mit der Rechnung bekommt. Ich wackelte mit den Zehen, krümmte und streckte sie, spürte jede einzelne, und in dem Augenblick fasste ich meinen Entschluss.
    Nein . Ich würde die Welt nicht mit einem langen Abschied verlassen, mich nicht in einen bleichen und zerfledderten Kulissenmond aus Pappmaschee verwandeln. Falls Papis Dämon mein Vermächtnis war, würde ich den Mistkerl bis zum Schluss bekämpfen, Atemzug um Atemzug, Erinnerung um Erinnerung, Feuer mit Feuer.
    Ich schnellte hoch und setzte die Füße auf den Boden. Fang hier und jetzt damit an, Juju.
    Heute war die Vorpremiere von Alice im Wunderland . Ich pflückte die Karten, die Zoe mir gegeben hatte, von der Pinnwand und fuhr mit den Daumen die Kanten entlang.
    Wenn die Dinge wie geplant gelaufen wären, hätte ich für die Rolle der Alice vorgesprochen. Ich hätte die vergangenen Wochen mit Zoe und den anderen Ensemblemitgliedern geprobt, im Witch’s Brew mit Christina meinen Text gelernt, Pancake Monologe vorgelesen, während ich rasch mein Frühstück hinunterschlang, ehe ich zum Theater hastete.
    Stattdessen hatte der Dämon sein hässliches Haupt erhoben und seine giftigen Fänge in unser Leben geschlagen. Und ich hatte den Großteil jener Wochen im Schuppen verbracht, wo ich anhand von Osmose lernte, eine Harley zu reparieren. Meine gesamte zerbrechliche Hoffnung hing an dieser Maschine.
    An Emilio Vargas.
    An meinem Vater.
    Ich hätte eine perfekte Alice abgegeben, Hals über Teekessel in den Kaninchenbau hineinpurzelnd, betäubt und träumend und darüber nachgrübelnd, was – wenn überhaupt – real war.
    Real . Das hier war real. Ich wusste noch immer, wer ich war, und ich konnte mir noch immer die Zehennägel lackieren und mit den Zehen in der Sonne wackeln und meinen Hund umarmen, und egal was irgendein genetischer Test über das Ende meiner Tage verkünden mochte, das alles hatte ich in diesem Moment.
    Ich schnappte mir mein Handy und wählte Emilios Nummer, dann presste ich es an mein Ohr. Bitte, nimm ab …
    »Ich wusste, du würdest nicht widerstehen können, mich wiederzusehen«, sagte Emilio. Er hatte meine Entschuldigung ohne viel Aufhebens angenommen, alles war vergeben und vergessen, und jetzt stand er in unserer Einfahrt neben seinem Motorrad, Grübchen und Duft nach frischer Seife inklusive, und zur Abwechslung protestierte ich einmal nicht. Er hatte recht – ich hatte nicht widerstehen können.
    »Ich fahre«, sagte er.
    Ich sah an meinem Jeansrock und den rosa Keilabsatzschuhen hinunter, die Mari mir geborgt hatte. Ich war ziemlich sicher, dass sie sich nach wie vor mies deswegen fühlte, wie wir tags zuvor auseinandergegangen waren – der Streit und dann die schlechten Neuigkeiten –, denn alles, was sie sagte, als ich mir im Bad die Haare föhnte, war, dass die Schuhe mir total gut stünden und ich Zoe Hals- und Beinbruch wünschen solle.
    Keine Warnung vor Emilio, kein Achtung! vor den Fallstricken der Liebe. Nur ein Paar rosa Schuhe und ein Lächeln. Und danach ein Haarband, weil ich an dem Abend in der Bowl die Spange mit der Seidenblume verloren hatte. Was total ätzend war, da es meine Lieblingsspange war

Weitere Kostenlose Bücher