Verlieb dich nie in einen Vargas
beginnen, dann …«
»Dann was?« Meine Hände zitterten. »Dann wissen wir eher Bescheid? Damit wir uns darauf freuen können, alles zu vergessen? Auf gar keinen Fall. Ich werde mich nicht testen lassen.«
»Schon verstanden«, sagte Mari. »Glaubst du, ich würde mir nicht vor Angst in die Hose machen? Aber die Vorteile …«
»Das hat Lourdes letztens gemeint, oder? Bei dem Anruf? Sie hat nach einem Test gefragt, und dann seid ihr alle ganz still und komisch geworden und …«
»Nicht komisch«, sagte Mari. »Wir bemühen uns, den besten Weg zu finden, damit fertigzuwerden.«
»Und?«
Mari würde jetzt jeden Moment von ihrem Stuhl aufspringen, in ein Kissen boxen, sich etwas einfallen lassen, um die Sache in den Griff zu bekommen, und später darüber lachen. Und ich würde ihrem Beispiel folgen. Sag mir, was ich tun soll. Sag mir, wie wir das wieder in Ordnung bringen …
»Celi und Lourdes sprechen sich wegen ihrer Flüge ab«, sagte Mari. »Sie wollen in ein paar Wochen herkommen, damit wir uns alle gemeinsam testen lassen können. Wir können erst mit einem Psychologen sprechen. Es ist besser, wenn wir alle zusammen sind. Wir können … es ist einfach besser.« Sie rutschte auf dem Schreibtischstuhl tiefer. Durch das Fehlen ihrer Berührung wurde mein Knie kalt.
Damit war alles gesagt, und nach ein paar Momenten unbehaglichen Schweigens küsste Mom mich auf die Stirn, und sie zogen sich in ihre eigenen Zimmer zurück und ließen das Problem mitten im Raum bei mir stehen, wo es sämtliche Luft zum Atmen aufbrauchte.
Ich holte Das Buch der gebrochenen Herzen unter dem Kopfkissen hervor und blätterte es erneut durch. Da waren die Vargas-Jungen und all die anderen Trennungen, die meine Schwestern durchlitten hatten. Sie hatten Jahrzehnte des kollektiven Herzschmerzes für immer verewigt. Auch andere Sachen – Duffer, der Hund, den sie gehabt hatten, bevor ich geboren wurde, der hinter dem Schuppen begraben lag. Ein Junge aus Lourdes’ Stufe, der Selbstmord begangen hatte. Maris beste Freundin, die im Abschlussjahr nach Frankreich gezogen war. Andere Freundinnen, die früh von der Schule abgegangen waren oder nach irgendeinem dummen Mädchenstreit jegliche Freundschaft aufgekündigt hatten.
Meine Eltern dagegen wurden kaum erwähnt, noch nicht einmal im Hintergrund der tagebuchähnlichen Einträge. Es war wahrhaftig eine Zeitkapsel der Hernandez-Schwestern; es war, als hätten meine Eltern überhaupt nicht existiert. Damals war es wichtig gewesen, sich zu verlieben, eine Klausur zu bestehen, die Zulassung fürs College zu bekommen. Es zählten unerfüllte Schwärmereien und geheime Träume, erste Drinks, erste Küsse, der beste Weg zum Fluss im Dunkeln, das Aus-dem-Haus-Schleichen, das eben die Liebschaften befeuert hatte, die später in Tränen endeten. Sie mussten meine Eltern nicht als Ursache ihrer gebrochenen Herzen in Betracht ziehen. Es wäre ihnen nie in den Sinn gekommen, dass der Tag kommen könnte, an dem Papi sich nicht an sie erinnern würde, der Tag, an dem sie sich nach einem Weg zurück durch das Gestrüpp aus Erinnerungen sehnen würden, zurück zu den vielen kleinen Dingen, zurück in eine Zeit, bevor sie je über den langen Abschied nachgedacht hatten.
Der lange Abschied. So nannten sie Alzheimer auf den Pinnwänden, den Webseiten, die ich in den Wochen nach der Diagnose auf der Suche nach einem Schlupfloch, einem Ausweg für uns durchforstet hatte. Vielleicht nicht heute oder morgen, aber eines Tages, so sagten sie, eines Tages würden wir aufwachen, und Papi würde nicht wissen, was für ein Tag es war. Er würde womöglich meinen Namen vergessen, vergessen, dass wir einen Hund hatten, oder ihn anstatt Pancake vielleicht Waffel oder Fenster oder Schnürsenkel nennen. Und Tag für Tag würde es aufs Neue losgehen, würden wir die Linien in seinem Gesicht, die Wölbung seiner Braue eingehend studieren und uns fragen, ob der Tag für ihn vertraut oder neu war.
Womöglich war es der lange Abschied, der längste von allen. Aber gleichzeitig war es sehr viel schlimmer als das. Denn in diesem Abschied verbargen sich einhundert Hallos, ein brandneues jeden Tag, so als begegneten wir uns zum ersten Mal.
Der Dämon würde dafür sorgen. Es gab keine Heilung. Nur die Zerstörung. Die Nachwehen.
Und von nun an bestand eine fünfzigprozentige Chance, dass er in uns weiterlebte.
20
Die Sonne wob rosa-orangefarbene Gespinste in den Dämmerungshimmel, und Pancake gähnte und ließ sein
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