Verlieb dich nie nach Mitternacht
Schloss. Sie schlug den Weg zum Heizungskeller ein. Seitdem der Monteur die Heizung repariert hatte, kamen keine Beschwerden der Hausbewohner mehr. Einige grüßten Maribel sogar mit neu gewonnenem Respekt. Immerhin war es ihr gelungen, am Heiligen Abend einen Handwerker zu erreichen. Ein Kunststück, das nicht jedem glückte.
Ihr Herz schlug schneller, als sie sich dem Keller näherte. Sie zögerte einen Moment, als sie die Tür zum Heizungskeller aufschloss.
Was erwartete sie?
Sie holte tief Luft. Dann trat sie ein und knipste das Licht an. Maribel schrie auf, als sie an der gegenüberliegenden Wand einen Mann erkannte. Im nächsten Moment schimpfte sie über sich selbst. Der Mann, den sie gesehen hatte, war in Wirklichkeit ihr eigener Schatten.
Du solltest etwas für deine Nerven tun, meine Liebe.
Mit den Fingern tastete sie die Wand hinter dem Heizkessel ab. Wenn sie nicht geträumt hatte, musste sich irgendwo hier die Tür befinden, durch die sie Friedrich in die Vergangenheit gefolgt war. Der raue Putz schürfte ihr die Fingerspitzen wund.
Einen Hinweis auf eine Zeitschwelle, ein schwarzes Loch, Alices Spiegel oder wie immer sie es nennen wollte, entdeckte sie nicht.
Mit der Taschenlampe leuchtete sie bis in die hintersten Winkel des Raumes. Es gab keinen Beweis für ihren Trip in die Vergangenheit.
Maribel setzte ihre Erkundung außerhalb des Hauses fort. Sie brauchte nicht lange, um zu finden, was sie suchte.
»Guten Morgen! Schöner Tag heute.«
Dort, wo sie mit Friedrich in die Vergangenheit eingetaucht war, befanden sich nun die Müllcontainer und eine redselige Hausbewohnerin aus dem fünften Stock.
Wieder in ihrer Wohnung, überfiel die Einsamkeit Maribel wie ein wütendes Tier. Die Erinnerung gaukelte ihr das Bild von Andrej vor. Er hatte sie mit einer Leidenschaft geliebt, wie vor ihm nur Boris. Sie sehnte sich danach, von ihm gehalten und geliebt zu werden.
Wenn du ein Traum warst, dann komm bitte heute Nacht.
Andrej kam nicht.
*
Die Silvesternacht und den ganzen Neujahrstag verbrachte Maribel in ihrem Bett. Gewissenhaft las sie sich durch einen Stapel Zeitreiseromane, während sie gedankenverloren eine Packung Kekse nach der anderen leerte. Am späten Abend des Neujahrstages feuerte sie alles unwillig in die Ecke. Die Romane hatten nur dazu beigetragen, ihre Sehnsucht zu schüren – ebenso wie ihre Zweifel.
Bevor Maribel an diesem Abend einschlief, suchte sie zwei Telefonnummern heraus. Die eine war von einem Therapeuten, der sich auf Persönlichkeitsstörungen spezialisiert hatte. Die andere war die Rufnummer des Stadtarchivs. Dort würde sie am nächsten Morgen mit ihrer Suche nach der Wahrheit fortfahren.
*
»Wie stellen Sie sich das vor? Es dauert Jahre, bis ich Ihnen das alles herausgesucht habe!« Der junge Mann in Cargohose, Sneakers und einem T-Shirt mit der Aufschrift ›Von hinten seh ich noch besser aus‹ entsprach in keiner Weise dem Klischee eines Archivars. Er zeigte aber auch nur geringe Bereitschaft, Maribel seine Schätze zu zeigen.
»Eigentlich handelt es sich um einen sehr kleinen Zeitraum. Die Jahreswende 1813/1814.«
»Lassen Sie mich mal überlegen …« Er zog einen Bleistift hinter seinem Ohr hervor und begann, darauf herumzukauen. »Damals war alles französisch. Kann sein, dass die Dokumente, sofern es welche gab, verbrannt sind.«
»Ich würde es trotzdem gern versuchen. Es ist wirklich dringend.«
»Wieso?«
Maribel zögerte kaum merklich. »Eine Erbschaftsangelegenheit. Es ist wichtig, die Verwandtschaft bis damals zurückzuverfolgen.«
Er grinste sie breit an. »Geht wohl um ’ne Menge Kohle?«
»Ja.« Maribel fühlte sich ihrem Ziel bereits einen deutlichen Schritt näher.
»Geht aber nicht.«
Maribel blies enttäuscht die Luft aus.
»Tut mir echt leid. Aber ich hab ’nen Auftrag aus dem Bürgermeisterbüro. Ich kann mich nicht zweiteilen.«
»Ich helfe Ihnen. Zeigen Sie mir nur, wo ich suchen muss.«
Zweifelnd kratzte er sich den rechten Oberschenkel. »Eigentlich dürfen an die Unterlagen nur Angestellte.«
»Dann stellen Sie mich an.«
»Geht nicht. Einstellungsstopp.«
Sie stand kurz davor, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, doch sie beherrschte sich.
»Hören Sie, ich muss da rein. Ich brauche diese Unterlagen. Ich bin bereit …«
In den Augen des Archivars leuchtete es erwartungsvoll auf, während Maribel hastig ihre Augen durch den Saal schweifen ließ, in dem sich die Aktenberge vom Steinfußboden bis an die Decke
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