Verlieb dich nie nach Mitternacht
herüberdrang, nur der Lärm der sich nähernden kämpfenden Armeen sein konnte, dauerte es noch bis zum Nachmittag, bis Friedrich von Leyen ihnen dies als Tatsache auch offiziell bestätigen konnte.
Schon früh am Morgen war er zur Mairie, wie die Bürgermeisterei seit der Machtübernahme durch Napoleon genannt wurde, in die benachbarte Ortschaft Lank geritten, um sich dort mit dem Bürgermeister und anderen Honoratioren der Stadt über die Lage zu beraten. Für den Bürgermeister bedeutete dies eine heikle Situation. Von den französischen Besatzungsmächten ins Amt eingesetzt, hatte er offiziell die Meinung Frankreichs zu vertreten. Danach bestand kein Anlass zur Sorge. Die siegreichen Armeen Napoleons verteidigten sich erfolgreich gegen den Vormarsch der alliierten Truppen. Bei den letzten militärischen Erfolgen unter General Blücher handelte es sich lediglich um Achtungserfolge.
Inoffiziell konnte aber auch er die alarmierenden Nachrichten, die sie von der anderen Rheinseite her erreichten, nicht ignorieren.
»Marschall Vorwärts«, wie General Blücher von seinen Soldaten respektvoll genannt wurde, machte seinem Namen alle Ehre. Unvermindert trieb er die Truppen Napoleons vor sich her. Die französischen Armeen schienen nur noch ein Ziel zu kennen: Sie wollten so schnell wie möglich die linke Rheinseite und damit scheinbar sicheres Terrain erreichen. Blücher, von dem man sich erzählte, er sei aus Frust über die Besetzung Preußens durch Napoleon in schwere Depression verfallen und habe eine Zeit lang ernsthaft geglaubt, mit einem Elefanten schwanger zu sein, hatte darin seine Chance erkannt.
Gemeinsam mit seinen Generälen Gneisenau und York und mit der Unterstützung durch den russischen Kriegsführer Langeron gelang es ihm, den französischen Truppen durch schnelle und gezielte Angriffe seine Strategie aufzuzwingen. Einige Male waren seine Truppen im Süden den Franzosen schon kurzfristig über den Rhein gefolgt. Nun munkelte man, dass die Befreiung der linksrheinischen Gebiete im Westen unmittelbar bevorstand.
Die Aussicht erfüllte Friedrich von Leyen und seine Freunde mit zwiespältigen Gefühlen. Seit dem Einzug der französischen Revolutionsarmee 1794 hatte sich das Leben in den linksrheinischen Dörfern um Ilverich herum verändert. Zu den einschneidendsten Veränderungen zählte sicherlich die Neuordnung der Verwaltung und die drastische Beschränkung kirchlicher Rechte und Privilegien. Statt Verwaltungsbezirke gab es Departements, statt der Bürgermeisterei eine Mairie, die zum Canton Uerdingen und nicht mehr wie bisher zum Amt Uerdingen gehörte. Bevölkerungslisten wurden aufgestellt, alle Bürger vor dem Gesetz gleichgestellt. Das Feudalrecht wurde aufgehoben, und die Abgaben an den Lehnsherrn fielen weg. Das Land wurde freies Eigentum seiner Besitzer. Mit der Einführung des französischen Steuerrechts wurde die Ausnahmestellung von Adel und Klerus beseitigt. Ein einheitliches Münz-, Maß- und Gerichtswesen wurde eingeführt. Französisch war Amtssprache, was vor allem für Urkunden galt und der Landbevölkerung große Schwierigkeiten bereitete.
Zähneknirschend fand selbst Friedrich sich damit ab, dass er für die französische Verwaltung nur noch Bürger Friedrich Leyen war. Der Mensch gewöhnte sich zwar an alles, doch der Versuch, auch die französische Zeitrechnung einzuführen, scheitere auf Dauer am Widerstand der Bevölkerung. Sie konnte sich nicht damit abfinden, Zeitabstände nur noch in Dekaden statt in Wochen zu messen, den Sonntag zu streichen und nur noch jeden zehnten Tag als Ruhetag zu feiern.
Nicht alles, was die Franzosen seit der Machtübernahme verfügten, geschah zum Nachteil der Bevölkerung. Aber eine fremde Macht blieb eine fremde Macht und war gegen die realistische Aussicht auf die wiedergewonnene politische Freiheit nicht aufzuwiegen.
Dennoch blieb auch in der Männerrunde, die sich an diesem Morgen in der Mairie versammelte, ein unbehagliches Gefühl zurück. Mit den verbündeten Truppen kamen auch die Russen mit ihren Kosaken, über die wahre Schauergeschichten kursierten.
»Der Herr bewahre uns vor den Geiern der Schlachtfelder«, lautete ihr Abschiedsgruß, als sie sich trennten.
*
Gemeinsam mit den anderen Mägden bereitete Maribel nach Gretes Anweisung Speisen und Getränke für die Silvesterfeier vor. Um seine Frau nach der Geburt des Kindes zu schonen, verzichtete Friedrich in diesem Jahr auf eine große Abendgesellschaft. Er würde um
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