Verlieb dich nie nach Mitternacht
Und wie viele Kinder beteten vielleicht in genau diesem Moment für ihre Väter, die sie nicht verlieren wollten? Ohne dass Maribel es merkte, entfuhr ihr ein tiefer Seufzer.
»So nachdenklich, während die anderen feiern?«
Sie hatte Friedrich nicht kommen gehört, aber sie erschrak auch nicht, als er sie so unverhofft ansprach. In ihren Gedanken war er ohnehin immer bei ihr. Als Boris, wie sie sich ehrlicherweise eingestand. Es fiel ihr schwer, die beiden so unterschiedlichen Männer für ein und dieselbe Person zu halten. Obwohl sie sich immer wieder sagte, dass es nicht anders sein konnte. »Ich habe darüber nachgedacht, wie viele der Soldaten da drüben wohl Kinder haben, die um sie weinen, wenn sie sterben.«
»So wie du um deine Eltern geweint hast?«
Ihr Herz machte einen unvernünftigen Sprung. »Sie erinnern sich an meine Geschichte?« Noch wagte sie es nicht, ihn mit dem vertraulichen Du anzureden.
»Du warst allein, als wir uns begegneten.«
»Ja, genau. Mein Vater starb bei einem Autounfall, als ich erst zwei war. Als meine Mutter an Magenkrebs starb, war ich dreizehn.«
Er wirkte plötzlich sehr jung, als er sie angrinste. »Was ist ein Autounfall? Und einen Magenkrebs kenne ich auch nicht. Mundet er?«
Irritiert runzelte sie die Stirn. Er erinnerte sich nicht daran, was Magenkrebs war? Hatte seine Flucht in die Vergangenheit etwa seine Erinnerung an die Zukunft ausgelöscht? Falls ja, wäre es schrecklich, dann erinnerte er sich auch nicht mehr an sie. »Ein Magenkrebs ist nichts zum Essen, sondern eine schreckliche Krankheit, die zum Tode führt und gegen die es auch in meiner Zeit kaum eine Medizin gibt.«
Mit dem Kopf zeigte Maribel hinüber zum Haus, aus dem alkoholseliges Gelächter ertönte. »Die da drinnen mit ihrem Branntwein sind jedenfalls stark gefährdet.«
»Und ein Autounfall ist eine Art Durchfall?«
Verblüfft lachte Maribel laut auf. »Ein Auto ist ein Fahrzeug. Eine Art Kutsche, die ohne Pferde läuft, aber sehr viel schneller.«
Sein Blick spiegelte Unverständnis. »Mir scheint, ich könnte sehr viel von dir lernen.« Friedrich versank in nachdenkliches Schweigen.
Misstrauisch beobachtete Maribel ihn. Spielte er ihr etwas vor?
»Vielleicht schaffen wir es, uns bis zu deiner Rückkehr in deine eigene Welt ein wenig auszutauschen«, sagte er.
Sie empfand seine Worte wie einen Schlag ins Gesicht. Deutlicher hätte er ihr nicht zu verstehen geben können, dass er sie nicht mehr liebte.
Warum, verdammt, hatte er sie dann überhaupt gerufen?
»Keine Sorge, unsere Wege werden sich für immer trennen.« Mit frostiger Miene sprach sie den Gedanken laut aus, der sie quälte. »Woher kennen Sie die Zeitschwelle?«, fragte sie.
Friedrich schlug den Kragen seines schlichten Gehrocks hoch. »Diese Frage stelle ich mir auch schon die ganze Zeit.« Er hüstelte verlegen und suchte nach Worten, bevor er ihr fest in die Augen sah. »Ich bin meiner inneren Stimme gefolgt, als meine Frau Hilfe brauchte. Ein helles Licht wies mir schließlich den Weg. Es war ein Weihnachtswunder, denke ich.«
Ungläubig sah Maribel zu ihm auf. »Aber Sie sagten, die Schwelle ist nur an einem Tag im Jahr geöffnet. Nur Heiligabend.« Mühsam kämpfte Maribel gegen die Angst, die in ihr aufstieg.
»Ich weiß, was ich sagte. Als ich mich noch einmal umdrehte, war das Licht verschwunden. Jeder andere Hinweis auf die Zeitschwelle auch. Kann es etwas anderes gewesen sein als ein Weihnachtswunder?«
»Dann gibt es keine Garantie dafür, dass ich zurückkehren kann?« Fassungslos suchte sie in seinen Augen nach Antwort. Die Knöchel ihrer Finger krampften sich vor Anspannung in das wärmende Einschlagtuch.
Friedrich verzichtete auf eine Antwort. Was hätte er auch erwidern sollen? Es gab keine Erklärung. Es war passiert. »Ich tue, was ich kann. Mehr kann ich nicht versprechen.«
Maribel griff Halt suchend nach seinem Arm. Der Boden schien unter ihren Füßen zu schwanken. »Ahnen Sie eigentlich, was Sie mir angetan haben? Sie haben mir meine Wurzeln genommen, alles, was mir im Leben wirklich wichtig war. Wer sagt Ihnen, dass ich nicht eine Familie habe, die auf mich wartet. Freunde? Einen Liebhaber?«
»Haben Sie einen Liebhaber?« Nur ihre Antwort auf diese Frage interessierte ihn wirklich. Dass sie weder Eltern noch Kinder besaß, für die sie sich verantwortlich fühlen musste, wusste er längst von ihr selbst. Aber er wusste nicht, ob irgendwo da draußen ein Mann auf sie wartete. Der sich, so
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