Verlieb dich nie nach Mitternacht
Steuererklärung zu spät abgegeben hatte. Zinsen, Zinsen, Zinsen. »Also, ich zahle lieber, als mich totschießen zu lassen.«
»Michel hat seinen Stolz. Er bleibt keinem Mann gerne Geld schuldig.«
Maribel nickte stumm, als habe sie verstanden. Doch sie musste zugeben, dass es ihr schwerfiel. In ihrem Jahrhundert gehörte Schuldenmachen fast zum guten Ton.
Das Knarren der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Gleichzeitig wandten sie und Lisette die Köpfe. Ben, der Schweinejunge, blieb abwartend unter dem Türkreuz stehen, das kleine Gesicht blass unter den buschigen roten Haaren. Erst als Maribel ihn freundlich anlächelte, traute er sich näher.
Ohne ein Wort kniete er sich an ihre Seite und begann wie sie, in den Bodenritzen herumzustochern. Lisette zwinkerte Maribel vertraulich zu. Dann begann sie mit Inbrunst, ihr Lieblingslied zu schmettern.
Es war ein Markgraf über dem Rhein.
Der hatte drei schöne Töchterlein;
zwei Töchterlein früh heiraten weg,
die dritt’ hat ihn ins Grab gelegt.
Dann ging sie singen vor Schwesters Tür:
Ach braucht ihr keine Dienstmagd hier?
XV
Als am nächsten Morgen die Glocke zum Wecken schlug, reckte Maribel gähnend ihre steifen Glieder. Nach den Tagen im Keller lag ihre erste Nacht in einem richtigen Bett hinter ihr.
Herrlich! Eine Wohltat für ihren Rücken. Am liebsten wäre sie noch eine Weile liegen geblieben, doch die Glocke trieb zur Arbeit. Das dicke Federbett bis zur Nase hochgezogen, schielte Maribel zum Fenster, an dem Eisblumen blühten.
Es war der 31. Dezember 1813 und – nicht zu fassen – sie würde Silvester zweihundert Jahre vor ihrer eigenen Zeit feiern.
Wenn Friedrich recht behält, musste sie noch genau elf Monate und dreiundzwanzig Tage auf dem Isselshof verbringen, bevor sie nach Hause zurückkehren konnte. Der Gedanke versetzte ihr einen schmerzlichen Stich.
Wie sollte sie den langen Zeitraum bloß überstehen? Mit dem Wissen, dass sich ihr geliebter Boris in der Gestalt von Friedrich drüben mit seiner Ehefrau in den Kissen wälzte? Sie in den Armen hielt, seine Zunge sich forschend in ihren Mund schlängelte, er ihre Brüste knetete, so wie er es immer bei ihr, Maribel, so fantasievoll getan hatte.
Mit jeder Faser ihres Körpers sehnte Maribel sich nach Boris. Nach seiner Liebe und seiner Leidenschaft. Unter dem Einfluss ihrer Hormone wanderte ihre Hand hinunter zwischen ihre Schenkel, suchte die richtige Stelle, um sich selbst Befriedigung zu verschaffen.
»Donnert es?«
Erschrocken setzte Maribel sich auf. Unauffällig zog sie ihre Hand zurück. Mit schreckgeweiteten Augen saß Lisette ihr im Bett gegenüber und lauschte angestrengt nach draußen. In der Ferne grollte es dumpf und unmelodisch.
»Sind das Kanonen?«
»Hört sich ganz so an.«
»Aber es klingt so nah.«
Barfuß lief Maribel zum Fenster. »Am Horizont ist es glutrot. Wer meinst du, schießt da? Die Napoleonischen oder die Alliierten?«
»Wär seltsam, wenn einer schießt, und der andere schaut bloß zu.«
Draußen verstummte die Glocke. Sogar sie schien zu lauschen.
Der Krieg rückte wieder näher.
Angst beschlich Maribel. Sie kannte Krieg bloß aus den modernen Medien ihrer Zeit. Er spielte sich in Asien, Afrika oder in Ländern ab, die weit von der eigenen Heimat entfernt lagen. Krieg war für sie nichts weiter als eine Schlagzeile. Interessant, aber ungefährlich. Doch unvermindert donnerten die Kanonen in der Ferne. Es hörte sich verdammt real an.
»Meinst du, sie kommen über den Rhein?«, fragte Maribel.
»Wenn die Napoleonischen siegen, dann nicht.«
Maribel sehnte sich nach einem Radio oder einem Fernsehgerät. Einem schnellen Nachrichteninstrument, das live vom Kriegsschauplatz berichtete. Ihre Unruhe wuchs, weil sie nur auf Vermutungen angewiesen war. »Angeblich sind die Franzosen auf dem Rückzug.« Friedrich hatte es angedeutet.
»Grete wird umkommen vor Angst um Michel.«
»Nicht jeder Soldat wird getötet. Verdient er als Gefangener eigentlich auch Geld?«
Lisette kicherte in ihr Bettzeug hinein. »Bestimmt. Dann auf gute Gesundheit und lange Gefangenschaft, Michel.«
»Auf Michel!« Maribels Angst entlud sich in einem unbändigen Lachreiz. Immer noch kichernd kleideten sie sich an. Zehn Minuten später versammelten sie sich mit dem Rest des Gesindes in der Küche in der Hoffnung auf neue Nachrichten von der Front.
*
Obwohl alle auf dem Hof sich darüber einig waren, dass das dumpfe Grollen, das von rechts des Rheins zu ihnen
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