Verlieb dich nie nach Mitternacht
Mitternacht gemeinsam mit dem Gesinde auf das neue Jahr anstoßen.
Während Maribel mit Lisettes Hilfe bunte Girlanden durch den Raum spannte, begann ihr Herz erwartungsvoll schneller zu schlagen. War es nicht seltsam, wie schnell man sich an völlig andere Lebensumstände gewöhnen konnte? Schon nach diesen wenigen Tagen entwickelte sie fast Heimatgefühle für die kleine Welt, in die sie geraten war.
Ein verwegener Gedanke kam Maribel. Ob sich aus der Zeitreisegeschichte, die sie gerade erlebte, nach ihrer Rückkehr Kapital schlagen ließ? In bunten Illustriertenblättern hatte sie schon häufig Berichte über Entführungsopfer gelesen. Nach der geglückten Befreiung verkauften sie die Rechte an ihrer Geschichte teuer.
Mit dem verdienten Geld wäre sie in der Lage, die Löcher zu stopfen, die Boris in ihr Finanzbudget gerissen hatte. Durch seinen Diebstahl. Seine Treulosigkeit.
Plötzlich erstarrte sie. War es nicht merkwürdig, dass Boris ihre gesamten Ersparnisse geraubt hatte, bevor er sich ins neunzehnte Jahrhundert flüchtete? Hier konnte er kaum etwas damit anfangen. Es war wertlos.
Der Gedanke verflog, als Lisette ungestüm an dem Stuhl rüttelte, auf dem Maribel stand. »He, du Träumerin! Wenn wir in dem Tempo weiterarbeiten, schmücken wir noch heute Abend, wenn die anderen längst tanzen. Verrat mir deine Gedanken, sofort!«
»Ich habe nichts anzuziehen!« Und das war nicht gelogen.
*
Am frühen Nachmittag setzte das Grollen der Kanonen aus. Gegen Abend, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, flammte es erneut auf. Jeder, der auf dem Isselshof lebte, verfolgte die Geräusche mit angespannter Aufmerksamkeit, vermied es aber tunlichst, darüber zu reden. Es schien eine stillschweigende Übereinkunft zu geben, die Silvesternacht 1813/14 noch einmal in vollen Zügen zu genießen, bevor das Leben sich wegen der politischen Lage änderte.
Ausgerechnet Grete, die sonst immer so grantig zu ihr war, lieh Maribel für den Abend ein Kleid aus dunkelblauem, feinem Linnen. Zunächst zögerte Maribel, das Angebot anzunehmen, weil sie es nicht in Gretes bisheriges Verhalten ihr gegenüber einordnen konnte. Aber auf Lisettes Zureden hin bedankte sie sich schließlich bei ihr. Es machte keinen Sinn, nachtragend zu sein.
Später bürstete Maribel ihre braunen Locken, bis sie glänzten.
»Heute Abend wirst du keine Sekunde auf deinem Platz sitzen. Jeder wird mit dir tanzen wollen«, prophezeite Lisette ohne Neid. Mit ihren haselnussfarbenen Augen in dem vor Aufregung geröteten Gesicht sah sie selbst zum Anbeißen aus. Dank ihrer Verführungskünste würde sie die erste Nacht des neuen Jahres jedenfalls nicht allein in ihrem Bett verbringen.
»Dein Wort in Gottes Gehörgang.« Lachend wollte Maribel sich im Arm ihrer neuen Freundin einhaken. Doch die bekreuzigte sich erschrocken über die Gotteslästerung.
*
Wie überall ringsum auf den Höfen zählte Branntwein auch auf Friedrichs Hof zum festen Bestandteil der täglichen Nahrung Ein probates Mittel, um vor allem die Männer zu Höchstleistungen bei der Arbeit zu motivieren. Die Folge war ein hoher Anteil an Alkoholabhängigen.
Auch am Silvesterabend floss der Branntwein in Strömen. Nicht der geschmuggelte englisch, sondern der gute hausgebrannte.
Maribel, die dem Getränk immer noch nichts abgewinnen konnte, nippte nur vorsichtig an ihrem Glas. Anders, als Lisette es ihr vorhergesagt hatte, verbrachte sie die meiste Zeit des Abends auf ihrem Platz. Genau genommen verließ sie ihn nur, um sich am Büfett, das Grete mit viel Liebe hergerichtet hatte, zu bedienen. Keiner der Knechte, die ihr begehrliche Blicke zuwarfen, wagte es, sie zum Tanz aufzufordern. Mit ihrer hellen Haut und der schlanken Gestalt stach sie deutlich unter den kräftigeren Landfrauen heraus. Die Männer mussten sich erst Mut antrinken, um sich ihr zu nähern.
Während Lisette, Grete und die anderen Mädchen zum Klang einer Fidel an ihr vorbeigewirbelt wurden, knabberte Maribel traurig und verloren an einer eingelegten Gurke. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie wickelte sich fest in ihr wärmendes Umschlagtuch und trat vor die Tür.
Sie genoss die kalte Nachtluft auf ihrer Haut. Minutenlang stand sie still und ließ ihre Umgebung auf sich einwirken.
Der Kanonendonner war verstummt. Wie viele der Soldaten da draußen träumten wohl gerade von ihren Familien daheim? Wie viele hatten ihre Kinder zurücklassen müssen, ohne die Gewissheit zu haben, sie jemals aufwachsen zu sehen?
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