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Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe

Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe

Titel: Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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für einen Augenblick uns selber ohne Zweifel bejahen und mit uns
     zufrieden sein können. Auf die Dauer gibt es das natürlich nicht, aber doch strebt das Innerste in uns nach nichts andrem als danach, sich selber
     natürlich wachsen und reifen zu spüren. Nur dann ist man in Harmonie mit der Welt, und unsereinem wird das selten zuteil, aber desto tiefer ist dann
     das Erlebnis.
    Aus einem Brief vom 5. Januar 1949
    S ie sprechen vom »Ich«, als sei es eine bekannte, objektive Größe, die es eben nicht ist. In jedem von uns sind zwei Ich, und wer immer wüßte, wo das eine beginnt und das andre aufhört, wäre restlos weise.
    Unser subjektives, empirisches, individuelles Ich, wenn wir es ein wenig beobachten, zeigt sich als sehr wechselnd, launisch, sehr abhängig von außen, Einflüssen sehr ausgesetzt. Es kann also nicht eine Größe sein, mit der fest gerechnet werden kann, noch viel weniger kann es Maßstab und Stimme für uns sein. Dies »Ich« belehrt uns über gar nichts, als daß wir, wie die Bibel oft genug sagt, ein recht schwaches, trotziges und verzagtes Geschlecht sind.
    Dann ist aber das andre Ich da, im ersten Ich verborgen, mit ihm vermischt, keineswegs aber mit ihm zu verwechseln. Dies zweite, hohe, heilige Ich (der Atman der Inder, den Sie dem Brahma gleichstellen) ist nicht persönlich, sondern ist unser Anteil an Gott, am Leben, am Ganzen, am Un- und Überpersönlichen. Diesem Ich nachzugehen und zu folgen, lohnt sich schon eher. Nur ist es schwer, dies ewige Ich ist still und geduldig, während das andre Ich so vorlaut und ungeduldig ist.
    Die Religionen sind zum Teil Erkenntnisse über Gott und Ich, zum Teil seelische Praktiken, Übungssysteme zum Unabhängigwerden vom launischen Privat-Ich und dem Näherkommen an das Göttliche in uns.
    Ich glaube, eine Religion ist ungefähr so gut wie die andre. Es gibt keine, in der man nicht ein Weiser werden könnte, und keine, die man nicht auch als dümmsten Götzendienst betreiben könnte. Aber es hat sich in den Religionen fast alles wirkliche Wissen angesammelt, zumal in den Mythologien. Jede Mythologie ist »falsch«, wenn wir sie anders als fromm ansehn; aber jede ist ein Schlüssel zum Herzen der Welt. Jede weiß von den Wegen aus dem Götzendienst am Ich einen Gottesdienst zu machen.
    Genug, ich bedaure, daß ich nicht Priester bin, aber vielleicht müßte ich dann gerade das von Ihnen verlangen, was Sie zur Zeit nicht leisten können. Und so ist es besser, ich rufe Ihnen einfach den Gruß eines Wanderers zu, der gleich Ihnen im Dunkel geht, aber vom Licht weiß und es sucht.
    Aus einem Brief vom Mai 1943
    W ie fast alle Eltern, so halfen auch die meinen nicht den erwachenden Lebenstrieben, von denen nicht gesprochen ward. Sie halfen nur, mit unerschöpflicher Sorgfalt, meinen hoffnungslosen Versuchen, das Wirkliche zu leugnen und in einer Kindeswelt weiter zu hausen, die immer unwirklicher und verlogener ward. Ich weiß nicht, ob Eltern hierin viel tun können, und mache den meinen keinen Vorwurf. Es war meine eigene Sache, mit mir fertig zu werden und meinen Weg zu finden, und ich tat meine Sache schlecht, wie die meisten Wohlerzogenen.
    Jeder Mensch durchlebt diese Schwierigkeit. Für den Durchschnittlichen ist dies der Punkt im Leben, wo die Forderung des eigenen Lebens am härtesten
     mit der Umwelt in Streit gerät, wo der Weg nach vorwärts am bittersten erkämpft werden muß. Viele erleben das Sterben und Neugeborenwerden, das unser
     Schicksal ist, nur dies eine Mal im Leben, beim Morschwerden und langsamen Zusammenbrechen der Kindheit, wenn alles Liebgewordene uns verlassen will
     und wir plötzlich die Einsamkeit und tödliche Kälte des Weltraums um uns fühlen. Und sehr viele bleiben für immer an dieser Klippe hängen und kleben
     ihr Leben lang schmerzlich am unwiederbringlich Vergangenen, am Traum vom verlorenen Paradies, der der schlimmste und mörderischste aller Träume ist.
    Aus »Demian«, 1917
    N ach meiner Meinung sind in meiner Generation weit mehr Menschenleben durch allzugroße Einschnürung und Hemmung des Trieblebens verpfuscht worden als durch das Gegenteil. Darum habe ich in einigen meiner Bücher mich zum Anwalt und Helfer dieses unterdrückten Trieblebens gemacht – aber nie, ohne die Ehrfurcht vor den hohen Forderungen beiseite zu lassen, die von den Weisen und von den Religionen gestellt werden. Unser Ziel ist auch nicht: auf Kosten unsrer Natur zu lauter Geist zu werden. Unser Ziel ist auch nicht: auf Kosten

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