Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
üblichen Moden und Gesetze geht.
Diesen Glauben kann man nicht befehlen und sich nicht zu ihm zwingen. Man kann ihn nur erleben. So wie der Christ die »Gnade« nicht verdienen, erzwingen oder erlisten, sondern nur gläubig erleben kann. Wer es nicht kann, der sucht seinen Glauben dann bei der Kirche, oder bei der Wissenschaft, oder bei den Patrioten oder Sozialisten, oder irgendwo, wo es fertige Moralen, Programme und Rezepte gibt.
Ob ein Mensch fähig und bestimmt ist, den schweren und schöneren Weg zu gehen, der zu einem eigenen Leben und Sinn führt, das kann ich nicht
beurteilen, auch nicht, wenn ich ihn mit Augen sehe. Der Ruf ergeht an Tausende, viele gehen den Weg ein Stück weit, wenige gehen ihn bis über die
Grenze der Jugend hinaus, und vielleicht gar niemand geht ihn völlig zu Ende.
Aus einem Brief vom Winter 1930
F urcht vor Wahnsinn ist meistens nichts anderes als Furcht vor dem Leben , vor den Forderungen unserer Entwicklung und unserer Triebe. Zwischen dem naiven Triebleben und dem, was wir bewußt sein möchten und zu sein streben, ist immer eine Kluft, man kann sie nicht überbrücken, wohl aber immer wieder überspringen, hundertmal, und jedesmal gehört Mut dazu und befällt uns vor dem Sprung einige Angst. Unterdrücken Sie die Regungen in sich nicht im voraus, nennen Sie sie nicht im voraus schon »Wahnsinn« etc., sondern hören Sie sie an, machen Sie sie sich deutlich! Jede Entwicklung ist mit solchen Zuständen verbunden, ohne Bedrängnis und Schmerzen geht es nicht. Wenn »Wahnbilder« Sie bedrängen, so schließen Sie nicht die Augen, sondern suchen Sie einmal, diese Bilder deutlich in sich werden zu lassen, sonst verfeinden Sie sich mit dem Chaos, das in Ihnen ist wie in jedem, nur immer mehr; Sie sollen sich aber mit ihm befreunden, es annehmen, mit ihm rechnen lernen. Und wenn es sogar Wahnsinn wäre, was in Ihnen steckt – Wahnsinn ist längst noch nicht das Ärgste, was einem Menschen begegnen kann; auch der Wahnsinn hat seine heilige Seite.
Aus einem Brief vom Februar 1937
A uf dem Wege vom Fisch, Vogel und Affen bis zu dem kriegführenden Tier unserer Zeit, auf dem langen Wege, auf dem wir mit der Zeit Menschen und Götter zu werden hoffen, konnten es nicht die »Normalen« sein, die von Stufe zu Stufe vorwärts gedrängt hatten. Die Normalen waren konservativ, sie blieben gern beim Gesunden, Bewährten. Eine normale Eidechse kam nie auf den Gedanken, es einmal mit dem Fliegen zu versuchen. Ein normaler Affe dachte nie daran, den Baum zu verlassen und aufrecht auf der Erde zu wandeln. Der das zuerst getan, der das zuerst probiert, zuerst davon geträumt hatte, der war unter den Affen ein Phantast und Sonderling, ein Dichter und Neuerer gewesen, und kein Normaler. Die Normalen, so sah ich, waren dazu da, die gefundene Form einer Lebensweise, einer Rasse und Art festzuhalten, zu schützen und zu befestigen, damit Rückhalt und Lebensvorrat da sei. Die Phantasten aber waren dazu da, ihre Sprünge zu machen und das nie Erdachte zu träumen, damit vielleicht einmal aus dem Fisch ein Landtier und aus dem Affen ein Affenmensch werden könne.
Also war »normal« eigentlich auch nichts Ideales, es war auch nur der Name für eine Funktion, nämlich für die konservative, arterhaltende. »Begabt« oder »Phantast« aber war der Name für die Funktion des Spielens und Probierens, des Ballspielens mit Problemen. Man konnte dabei kaputtgehen, wahnsinnig werden, dem Selbstmord verfallen. Man konnte aber unter Umständen auch Flügel erfinden, Götter schaffen. Kurz: während der Normale dafür sorgte, daß die Art, wie sie war, erhalten bleibe, war es Amt des »Geistigen«, dafür zu sorgen, daß der andere, gegenteilige Besitz der Menschheit, nämlich ihr Ideal, ebenfalls erhalten bleibe und nicht eingehe. Zwischen beiden Polen spielte das Leben der Menschheit: Festhalten, was man erreicht hat, und Erreichtes wegwerfen, um Weiteres anzustreben! Das war es. Und des Dichters Funktion war die, auf der idealen Seite mitzutun, Ahnungen zu haben, Ideale zu schaffen, Träume zu haben.
Und daher kam es, daß es jene »Wirklichkeit« gab, an die der Dichter nie glauben konnte, jene unsäglich wichtige Welt von Geschäften, Parteien, Wahlen,
Geldkursen, Ehrentiteln, Orden, Hausordnungen und so weiter. Und wenn der Dichter sich politisierte, so wandte er sich von seinem menschheitlichen Amt
des Vorausträumens und vom Dienst am Ideal ab und pfuschte den Praktikern ins Handwerk, die mit
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