Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
Frage sie, die Zukunft bedeutet, die Liebe heißt! Frage nicht deinen Verstand, suche nicht die Weltgeschichte nach rückwärts durch! Deine Seele wird dich nicht anklagen, du habest dich zu wenig um Politik gekümmert, habest zu wenig gearbeitet, die Feinde zu wenig gehaßt, die Grenzen zu wenig befestigt. Aber sie wird vielleicht klagen, du habest allzu oft vor ihren Forderungen Angst gehabt und dich geflüchtet, du habest nie Zeit gehabt, dich mit ihr, deinem jüngsten und hübschesten Kinde, abzugeben, mit ihr zu spielen, ihren Gesang anzuhören, du habest sie oft um Geld verkauft, um Vorteile verraten. Und so sei es Millionen gegangen, und wohin man blicke, da machen die Menschen nervöse, gequälte, böse Gesichter, hätten keine Zeit außer fürs Unnützeste, für Börse und Sanatorium, und dieser häßliche Zustand sei nichts anderes als ein warnender Schmerz, ein Mahner im Blut. Nervös und lebensfeindlich – so sagt deine Seele – wirst du, wenn du mich vernachlässigst, und wirst es bleiben und wirst daran untergehen, wenn du dich mir nicht mit ganz neuer Liebe und Sorgfalt zuwendest. Auch sind es keineswegs die Schwachen, die Wertlosen, die an der Zeit krank werden und die Fähigkeit zum Glück verlieren. Es sind vielmehr die Guten, die Keime der Zukunft; es sind die, deren Seele nicht zufrieden ist, die sich nur noch aus Scheu dem Kampf wider eine falsche Weltordnung entziehen, die aber vielleicht morgen schon Ernst machen werden.
Von hier aus betrachtet, sieht Europa aus wie ein Schläfer, der in Angstträumen um sich haut und sich selber verletzt.
Ja, da erinnerst du dich, daß ein Professor dir einmal Ähnliches gesagt hat, daß die Welt am Materialismus und am Intellektualismus leide. Der Mann hat recht, aber er wird dein Arzt nicht sein können, so wenig wie sein eigener. Bei ihm redet die Intelligenz bis zur Selbstvernichtung weiter. Er wird untergehen.
Möge der Weltlauf gehen, wie er wolle, einen Arzt und Helfer, eine Zukunft und neuen Antrieb wirst du immer nur in dir selber finden, in deiner armen, mißhandelten, geschmeidigen, nicht zu vernichtenden Seele. In ihr ist kein Wissen, kein Urteil, kein Programm. In ihr ist bloß Trieb, bloß Zukunft, bloß Gefühl. Ihr sind die großen Heiligen und Prediger gefolgt, die Helden und Dulder, ihr die großen Feldherrn und Eroberer, ihr die großen Zauberer und Künstler, sie alle, deren Weg im Alltag begann und in seligen Höhen endete. Der Weg der Millionäre ist ein anderer, und er endet im Sanatorium.
Kriege führen auch die Ameisen, Staaten haben auch die Bienen, Reichtümer sammeln auch die Hamster. Deine Seele sucht andere Wege, und wo sie zu kurz kommt, wo du auf ihre Kosten Erfolge hast, blüht dir kein Glück. Denn »Glück« empfinden kann nur die Seele, nicht der Verstand, nicht Bauch, Kopf oder Geldbeutel.
Indessen, hierüber kann man nicht lange denken und reden, so stellt das Wort sich ein, das alle diese Gedanken längst zu Ende gedacht und gesagt
hat. Es ist vor langer Zeit gesprochen und gehört zu den wenigen Menschenworten, die zeitlos und ewig neu sind: »Was hülfe es dir, wenn du die ganze
Welt gewännest, und nähmest doch Schaden an deiner Seele!«
1917
W enn Sie dazu geboren sind, ein eigenes und kein Dutzendleben zu führen, so werden Sie den Weg zur eigenen Persönlichkeit und zum eigenen Leben auch finden, obwohl es ein schwerer Weg ist. Wenn Sie nicht dazu bestimmt sind, wenn die Kraft nicht reicht, so werden Sie früher oder später verzichten müssen und werden sich der Moral, dem Geschmack und der Sitte der Allgemeinheit anschließen.
Es ist eine Frage der Kraft. Oder, wie ich lieber denke, eine Frage des Glaubens. Denn man findet oft sehr starke Menschen, die rasch versagen, und findet sehr zarte und schwache, die trotz Krankheit und Schwäche prachtvoll mit dem Leben fertig werden und ihm ihren Stempel auch im Dulden aufzwingen . . .
Der Glaube, den ich meine, ist nicht leicht in Worte zu bringen. Man könnte ihn etwa so ausdrücken: Ich glaube, daß trotz des offensichtlichen Unsinns das Leben dennoch einen Sinn hat, ich ergebe mich darein, diesen letzten Sinn mit dem Verstand nicht erfassen zu können, bin aber bereit, ihm zu dienen, auch wenn ich mich dabei opfern muß. Die Stimme dieses Sinnes höre ich in mir selbst, in den Augenblicken, wo ich wirklich und ganz lebendig und wach bin.
Was in diesen Augenblicken das Leben von mir verlangt, will ich versuchen zu verwirklichen, auch wenn es gegen die
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