Verliebt in einen Gentleman
nicht ahnen, dass ich in Wirklichkeit ziemlich vernünftig und reif bin.
Das heißt – mein Verhalten in seiner Nähe war nicht sehr vernünftig oder reif, das gebe ich zu. Jetzt werde ich das ändern. Ich bin gespannt, ob Ethan es überhaupt merkt. Wenn ich vorsichtig und geduldig genug vorgehe, wird er nie wissen, was eigentlich geschehen ist. Ich werde (kaum merklich), halt wie ein Chamäleon, zu meiner eigentlichen Farbe zurück finden. Er wird sich die Augen reiben und meinen, dass er sich wohl täuscht und sich nichts wirklich wesentlich verändert hat.
Jetzt fährt Ethan langsamer. Wir sind in Sternham angekommen, wie das Ortsschild verkündet. Ich liebe diese Dörfer in Essex oder Suffolk. Wieder einmal bin ich entzückt von den bunten Häuschen, die sich um den gepflegten Ententeich gruppieren. Eine kleine, alte Kirche versucht, mit ihren wuchtigen Natursteinmauern beeindruckend auszusehen, aber sie ist so winzig, dass es ihr nicht gelingt. Mein Herz klopft bei ihrem Anblick schneller. Wer weiß? Vielleicht habe ich gerade zum ersten Mal meine Traukirche gesehen. Okay, eine Hochzeit in Bielefeld wäre auch schön. Auf Anhieb fallen mir auch mehrere malerische Kirchen ein, wo man eine hübsche Trauung veranstalten könnte. Aber so eine Hochzeit im englischen Dorf...
Das hat so etwas von Romantik und Rosamunde Pilcher. Es wäre ein Traum.
Ethan biegt in eine Einfahrt ein, die von einem großen, schmiede-eisernen Tor bewacht wird, dessen Flügel jetzt aber weit aufgeworfen sind. Ein Schild an der Einfahrt gibt an, dass das Haus, auf das wir zu fahren, „The Old Vicarage“ ist, das alte Pfarrhaus. Es liegt zwischen hohen Bäumen, inmitten eines kleinen Gartens. Auch das alte Pfarrhaus ist aus grauem Naturstein gebaut. Das sieht längst nicht so possierlich aus, wie die bunt-verputzten Häuser im Dorf, sondern sehr würdig. Die Fassade ist über und über mit dunkelgrünem Efeu bewachsen.
Jetzt klopft mein Herz natürlich noch viel schneller. Wie wird die erste Begegnung mit Ethans Mutter ablaufen? Solche Ereignisse sind so wahnsinnig wichtig! Man will nichts falsch machen, nichts Falsches sagen.
Ha, wieder bin ich dabei, meine Tarnkappe aufzusetzen. Ich will bei Mrs. Derby nicht wieder dieselben Fehler begehen, wie bei Ethan. Natürlich habe ich nicht vor, in das Haus herein zu marschieren, mit dem Flair von „Hoppla, hier komm ich“, aber ich werde mich höflich doch selbstbewusst betragen, so als ob sie NICHT möglicherweise meine Schwiegermutter in Spe wäre.
Ethan und ich schreiten auf die Haustür zu und Ethan betätigt den schweren Türklopfer, der aus blankem Messing ist und wie eine Löwentatze aussieht.
Er klopft nur zweimal, da geht schon die Tür von innen auf. Aha, Mrs. Derby hat schon Ausschau gehalten.
Als Erstes fällt mir bei Mrs. Derby auf, dass sie genauso klein ist, wie ich. Ihre zierliche Figur ist mit einen edlen Tweedrock und dazu einer makellosen weißen Bluse bekleidet, darüber einen grauen Cardigan. Sie ist eine elegante Erscheinung, nicht zuletzt deshalb, weil sie die gleichen klar-geschnitten und vornehmen Gesichtszüge hat, wie mein Ethan. Ihre grau-melierten Haare sind an ihren Hinterkopf zu einem losen Knoten zusammen gefasst.
Vielleicht hätte ich einen kühlen Empfang erwartet, aber dem ist überhaupt nicht so. Mrs. Derby nimmt meine Hand gleich sanft in ihre kleine, sucht mein Gesicht mit ihren dunklen Augen ab, als wollte sie gleich alles auf einmal daraus erfahren, und begrüßt mich herzlich.
„Lea, wie nett, dich endlich kennenzulernen! Ethan hat schon viel von dir erzählt. Willkommen in unserem Haus. Komm, leg deinen Mantel ab, dann zeige ich dir eben dein Zimmer und anschließend trinken wir eine schöne Tasse Tee.“
Während ich ihr die Treppe in den oberen Stock hinauf folge, muss ich darüber nach sinnieren, warum die Engländer immer von einer „nice cup of tea“ sprechen, so wie man bei uns in Deutschland gerne von der „guten Butter“ spricht. Gibt es überhaupt so etwas wie eine „awful cup of tea“? Eher nicht. Die Floskel ist irgendwie überall üblich. Lustig.
Mrs. Derby öffnet die Tür zum Gästezimmer. „Hier ist dein Reich, Lea. Fühl dich ganz wie zu Hause.“ Natürlich schlafen Ethan und ich im Pfarrhaus getrennt. Er hatte mich schon vorgewarnt. Das Zimmer ist nicht zu groß, aber hell. Ich gehe zum Fenster und schaue hinaus. Man kann in den hinteren Garten sehen, durch den akkurat geschnittene Buchsbaum-Einfassungen laufen.
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