Verliebt in einen Unbekannten
(auch nicht viel besser).
»Ich kann heute Abend nicht zur Premiere fahren, weil es mich umbringen würde, ihn mit seiner Freundin zu sehen«, teilte ich Malcolm mit. »Also werde ich einfach weiter vor mich hin dümpeln und abwarten, bis es endlich vorübergeht, und zwar hier in Schottland.« Malcolm blickte mich bestätigend an.
Shelley dagegen tischte ich dieselbe an den Haaren herbeigezogene Ausrede auf, die ich bei Sam bereits angebracht hatte â dass ich das Taufmahl für das Baby meiner Cousine organisieren müsse (das noch nicht mal geboren war, doch das nur nebenbei) â, dann schob ich mein Handy unters Sofakissen und suchte verzweifelt nach etwas, was mich von der misslichen Situation ablenken würde.
Ich zog eine Schachtel, die Granny Helen gehört hatte, zu mir heran. Ness und ich waren während der vergangenen Wochen nach Dads Anweisungen ihre Besitztümer durchgegangen, doch es lag immer noch ein Haufen Arbeit vor uns.
Ich drehte die Schachtel um. » FOTOS «, stand in Granny Helens schwungvoller Handschrift darauf. Ich lächelte. Meine GroÃmutter mochte vielleicht körperlich nicht mehr hier sein, doch ihr Geist war stets präsent. Ich stellte mir vor, wie sie jetzt mit ihrem Gehstock auf meinen schmuddeligen Pulli (einen von Dads aussortierten) deuten und mich fragen würde, ob ich noch zu retten sei.
Die Schachtel war voller Umschläge, allesamt gesteckt voll mit kleinen Sepia-Fotos. Jeder einzelne war mit Grannys eindrucksvoller Krakelschrift versehen, und dank ihrer sorgfältigen Beschriftung stieà ich unverzüglich auf einen ganz besonderen: » CHRISTIANS EINSCHULUNG «, stand auf einem Umschlag. Ich zog die Fotos heraus und fing augenblicklich an zu lachen. Der kleine, vierjährige Dad trug Tweedshorts und Kniestrümpfe. Auf dem ersten Foto blickte er bestürzt in die Kamera, doch auf dem zweiten war er wie immer: ein SpaÃvogel, besser gesagt: ein Affe. Er hing kopfüber in einem Baum im Garten, der Inhalt seiner Schultasche purzelte um ihn herum zu Boden. Auf dem dritten Foto stand er wieder mit den FüÃen auf der Erde, die Schultasche gepackt, einen furchterregend finsteren Ausdruck auf dem Gesicht. Ich vermutete, dass Granny Helen ihm in der Zwischenzeit einen ordentlichen Klaps auf den Allerwertesten verpasst hatte.
Eifrig darauf bedacht, weitere Fotos zu finden, zog ich einen Umschlag aus der Schachtel, der sich anders anfühlte als die anderen.
Ich drehte ihn um. » JACK « stand darauf. Ich zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.
Granddad Jack war der GroÃvater, den ich nie kennengelernt hatte. Er war während des Zweiten Weltkriegs Hauptmann bei der Luftwaffe auf Malta gewesen und abgeschossen worden, als Granny Helen mit Dad im sechsten Monat gewesen war. Dad hatte nie viel über diese Tragödie gesprochen, doch die enge Bindung an seine Mutter zeigte deutlich, wie sehr ihm ein Vater letztlich gefehlt hatte.
Ich öffnete den Umschlag, aufgeregt bei der Aussicht, gleich Fotos von meinem Granddad in den Händen zu halten. Doch anstelle von Fotos zog ich ein sorgfältig gestapeltes Bündel Papiere heraus.
Ich musste es nicht öffnen, um zu wissen, dass es sich um Briefe handelte.
Der erste Brief war in einer spinnenhaften Handschrift geschrieben, die ich noch nie zuvor gesehen hatte und die ein ziemlicher Kontrast zu Granny Helens ausladendem Gekrakel war. Ich zögerte, die Stirn in Falten gezogen. War es in Ordnung, dass ich die Korrespondenz meiner toten GroÃeltern las? Ich stellte Malcolm diese Frage, doch er wedelte nur träge mit dem Schwanz. Ich überlegte ein paar Minuten und beschloss, es zu wagen. Fanden die Menschen nicht genau auf diese Art und Weise verblüffende Dinge über ihre Vorfahren heraus?«
»Das würde jeder an meiner Stelle tun«, sagte ich zu Malcolm und öffnete das Bündel so vorsichtig, wie ich konnte.
In der Mitte lag ein Brief, der in drei Umschlägen steckte. Es musste etwas ganz Besonderes sein, das spürte ich, noch bevor ich ihn aufgefaltet hatte. Das Zimmer lud sich förmlich auf vor Emotionen. Ich fing an zu lesen. Meine SüÃe , stand da in ordentlicher, zur Seite geneigter Handschrift. Ich lächelte bei der Vorstellung, dass Granny Helen jemandes »SüÃe« war.
Ich danke dir tausendmal dafür, dass du mir schreibst, und auch für das Stück Yardley-Seife. Was für ein Luxus!
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