Verliebt in einen Unbekannten

Die Kameraden waren schrecklich neidisch!
    Ich trage deinen Brief in meiner Tasche, damit ich ihn den ganzen Tag und die ganze Nacht bei mir habe. Er glüht warm durch mein kratziges Hemd und spendet mir Trost, meine Liebe! Er schenkt mir Kraft in der Stille der Nacht, wenn die Geräusche um mich herum feindlich und furchterregend klingen und ich mich nach dem vertrauten Klirren sehne, wenn du deine Teetasse auf die Untertasse stellst. Er beruhigt mich, wenn die anderen um mich herum zornig werden, in Panik geraten oder barsch miteinander reden.
    Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, bis ich dir antworten konnte, doch leider bleibt uns nur wenig Zeit zum Schlafen, von Erholung ganz zu schweigen. Dieses Versäumnis bedeutet jedoch keineswegs, dass meine Gefühle für dich nachlassen, geliebte Helen. Wenn ich morgens aufwache, denke ich an dich, du bist den ganzen Tag über bei mir, liebevoll und wunderschön, bis ich erschöpft ins Bett falle. Ich träume von unseren Spaziergängen am Meer im April und von unseren Sommerpicknicks in den Hügeln Südostenglands.
    Oh, ich sehne mich so nach unserem gemeinsamen Leben zurück, mein Schatz. Ich muss aufhören, Tompkins ruft mich.
    Ich liebe dich und vermisse dich von ganzem Herzen.
    Für immer der deine
    Jack
    Tief gerührt ließ ich den Brief sinken. Ich hatte mir nie richtig bewusst gemacht, was verliebt sein in der Generation meiner Großeltern bedeutet hatte. An irgendeinem Punkt hatte ich offenbar beschlossen, dass es sich ausschließlich um förmliche Arrangements gehandelt haben musste, dass diese Verbindungen nur auf Zuneigung und Respekt basierten. Wie kurzsichtig ich doch gewesen war! Ein paar Minuten blieb ich reglos sitzen und starrte überwältigt in die Ferne, dann suchte ich nach Granny Helens Antwort.
    Und die riss mich ziemlich abrupt aus meiner Träumerei.
    Du hast diesen letzten Brief nie und nimmer selbst verfasst, Jack , hatte Granny Helen am 1. Dezember 1941 geschrieben. Ich war ein wenig entrüstet: Selbst für Granny Helen war das ganz schön ruppig. Hältst du mich für blöd? Der Brief war pure Poesie, und du, mein Lieber, bist alles andere als ein Poet. Trotzdem bist du ein schneidiger Bursche, ein grandioser Kerl, also lasse ich dir das durchgehen. Du bist mein liebenswerter Dummkopf.
    Ich entspannte mich. So hatte das also funktioniert: Granny Helen schickte eine Rakete los und schoss sie ab, bevor sie Schaden anrichten konnte. Herrlich, wie sie ihn schneidig, grandios nannte – diese Seite hatte ich nie an ihr kennengelernt.
    Es war schön, von dir zu hören, Jack, egal, wer diesen Brief geschrieben hat. Ich vermisse dich und denke jeden Tag an dich. Hier ist es ruhiger als üblich; die meisten Frauen aus der Stadt sind in Dunbar und helfen in irgendeinem Lager, weshalb ich die meiste Zeit über völlig auf mich gestellt bin. Ich habe schon eine Maschine zum Kartoffelstampfen konstruiert, um nicht zu verblöden. Zu viele schwangere Frauen werden zu nutzlosen Schwabbeltieren.
    Die Übelkeit ist jetzt vorbei, und ich vertilge fast so viel wie das fette Pferd von den Duries.
    Gestern Nacht habe ich geträumt, du würdest in der Küche stehen und Harfe spielen. Was habe ich gelacht! Als ich aufgewacht bin, war ich traurig, weil du so weit weg bist. Ich zähle die Tage bis zu deiner Rückkehr. Nein, ich zähle die Stunden! Komm wohlbehalten heim, mein schöner Soldat.
    Deine Helen
    Ich blickte auf den Brief hinab und spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass meine schnippische Großmutter zu solch offenen Gefühlsäußerungen fähig gewesen war.
    Doch ihr Vorwurf, Jack habe diesen Liebesbrief von jemand anderem schreiben lassen, überraschte mich wirklich. Warum behauptete sie das? Hatte sie tatsächlich gemeint, was sie da sagte?
    Ein Gedanke formte sich in meinem Kopf. Plötzlich aufgeregt fing ich an, nach Granddad Jacks Antwort zu suchen.
    Helen, mein Schatz, natürlich habe ich den Brief geschrieben! Kleingläubiger Thomas! Übrigens schreibe ich Briefe für die meisten Kameraden in meiner Staffel. Es wäre Wahnsinn, sie selbst schreiben zu lassen, sie würden binnen weniger Tage ihre Liebsten vergraulen! Nein, meine Liebe, ich bin vielleicht nicht der ordentlichste Mann in meiner Einheit – ich habe heute Morgen wegen des Zustands meiner Stiefel