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Verliere nicht dein Gesicht

Verliere nicht dein Gesicht

Titel: Verliere nicht dein Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Westerfeld
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"Hä?"
      "Vielleicht hast du ihm versprechen müssen, vorsichtig zu sein, damit du ihn nicht noch mal belästigst. Damit du Angst davor hast, noch mal nach New Pretty Town zu gehen."
      Tally wollte antworten, aber ihre Kehle war wie ausgedörrt. "Hör mal, wenn du nicht mitkommen willst, dann ist das okay", sagte Shay. "Wirklich, Scheelauge. Aber wir werden nicht erwischt. Und wenn doch, dann nehme ich die ganze Schuld auf mich." Sie lachte. "Dann sag ich ihnen, dass ich dich entführt hab."
      Tally stieg auf ihr Brett und schnippte mit den Fingern. Als sie mit Shay auf Augenhöhe gekommen war, sagte sie: "Ich komme mit, das hab ich doch gesagt."
      Shay lächelte und nahm für eine Sekunde Tallys Hand und drückte sie. "Klasse. Das wird lustig. Und kein Pretty-Spaß, sondern die echte Ware. Setz das hier auf."
      "Wozu sind die gut? Geben die Nachtsicht?"
      "Nix da. Das ist eine Schutzbrille. Du wirst vom Wildwasser begeistert sein."
            ***
      Zehn Minuten später hatten sie die Stromschnellen erreicht.
      Tally hatte ihr ganzes Leben mit dem Fluss vor Augen verbracht. Mit seinen langsamen, würdevollen Bewegungen kreiste er die Stadt ein und bezeichnete die Grenze zwischen den Welten. Aber sie hatte nie gewusst, dass das prachtvolle Silberband sich nur wenige Kilometer oberhalb des Damms in ein fauchendes Ungeheuer verwandelte.
      Das brodelnde Wasser war wirklich wild. Es brauste über Felsen und durch enge Kanäle, es wurde als Gischt ins Mondlicht hochgeschleudert, teilte sich, schloss sich wieder zusammen und stürzte in die kochenden Kessel unterhalb der steilen Wasserfälle.
      Shay flog jetzt über der Strömung, so tief, dass sie einen Strudel aufwirbelte, wann immer sie die Wasseroberfläche streifte. Tally folgte ihr in einer Entfernung, die sie für sicher hielt, und hoffte, ihr manipuliertes Brett werde sich immer noch weigern, gegen die in der Dunkelheit versteckten Felsen und Bäume zu knallen. Der Wald an beiden Ufern war eine schwarze Leere voller wilder und uralter Bäume, ganz anders als die sorgfältig gezüchteten Kohlenstoffsauger, die die Stadt schmückten. Die Wolken sahen zwischen den Zweigen im Mondschein aus wie eine mit Perlen besetzte Decke.
      Jedes Mal, wenn Shay aufschrie, wusste Tally, dass sie ihrer Freundin jetzt durch eine Wand aus Gischt folgen würde, die von den Strudeln hochgeschleudert wurde. Manche dieser Wände schimmerten im Mondlicht wie weiße Spitzenvorhänge, andere tauchten ohne Vorwarnung aus der Dunkelheit auf. Tally passierte es außerdem immer wieder, dass sie durch Bögen aus kaltem Wasser schoss, die Shays Brett aufwirbelte, wenn sie die Wasseroberfläche streifte, aber immerhin wusste sie dadurch, wenn eine Kurve bevorstand.
      Die ersten Minuten waren der pure Terror. Tally presste die Zähne so hart aufeinander, dass ihre Kiefer schmerzten, ihre Zehen krallten sich in ihre neuen Griffschuhe, und sie breitete die Arme aus und spreizte sogar die Finger, um im Gleichgewicht zu bleiben. Aber nach und nach gewöhnte sie sich an die Dunkelheit, das Brüllen des Wassers unter ihr, die unerwarteten Schläge der kalten Gischt gegen ihr Gesicht. Es war wilder und schneller und weiter, als sie je geflogen war. Der Fluss schlängelte sich in den dunklen Wald und bahnte sich seinen kurvenreichen Weg ins Unbekannte.
      Endlich fuchtelte Shay mit den Händen und setzte zur Landung an, wobei der hintere Teil ihres Brettes im Wasser lag. Tally stieg hoch, um der aufstiebenden Gischt auszuweichen, und ließ ihr Brett einen engen Kreis beschreiben, um möglichst sanft zu stoppen.
      "Sind wir da?"
      "Noch nicht ganz. Aber sieh doch nur." Shay zeigte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
      Tally keuchte bei diesem Anblick auf. Die ferne Stadt sah aus wie eine leuchtende Münze, die sich in die Dunkelheit schmiegte, das Feuerwerk von New Pretty Town war nur noch ein vager kaltblauer Schimmer. Sie waren offenbar sehr hoch oben: Tally konnte sehen, wie einzelne Flecken aus Mondlicht sich über die niedrigen Hügel vor der Stadt zogen, sie wurden von dem leichten Wind bewegt, der an den Wolken nur ganz vorsichtig zupfte. Sie hatte die Stadt nachts noch nie verlassen, hatte die Stadt noch nie aus dieser Entfernung gesehen.
      Tally nahm ihre triefnasse Schutzbrille ab und holte tief Atem. Die Luft war erfüllt von scharfen Gerüchen, von Nadelbäumen und Waldblumen und vom elektrischen Duft kochenden Wassers.
      "Nett, was?"
      "Ja",

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