Verliere nicht dein Gesicht
Leben, Tally."
Sie wusste, wenn sie jetzt in seine Augen schaute, dann würde alles vorbei sein. Ein Blick, und ihre Widerstandskraft wäre verflogen. "Freunde fürs Leben?", fragte sie.
"Fürs Leben."
Sie holte tief Atem und erlaubte es sich, in seine Augen zu schauen. Er sah so traurig aus, so verletzlich und verletzt. So perfekt. Tally stellte sich vor, wie sie neben ihm stand, ebenso schön, wie sie jeden Tag damit verbrachten, einfach nur zu quatschen und zu lachen und Spaß zu haben.
"Du wirst dein Versprechen halten, Tally?"
Ein Schauer der Erschöpfung und der Erleichterung durchlief sie. Jetzt hatte sie sie, eine Entschuldigung, um ihr Versprechen zu brechen. Sie hatte Peris etwas versprochen, ehe sie Shay kennengelernt hatte, und dieses Versprechen war ebenso wichtig. Ihn kannte sie seit vielen Jahren, Shay erst seit wenigen Monaten. Und Peris war hier, nicht weit weg in einer unbekannten Wildnis, und er sah sie mit diesen Augen an ...
"Natürlich."
"Wirklich?" Er lächelte und sein Lächeln war so hell wie draußen der neue Tag.
"Ja." Das Sprechen war jetzt so leicht. "Ich komme, so schnell ich kann. Versprochen."
Er seufzte und drückte sie an sich, wiegte sie sanft hin und her. Ihr kamen wieder die Tränen.
Endlich ließ Peris sie los und schaute hinaus in die Morgensonne.
"Ich muss jetzt wohl los." Er zeigte auf die Tür. "Du weißt schon, ehe die ... Dingsda ... alle aufwachen."
"Natürlich."
"Ich geh sonst um diese Zeit ins Bett, und vor dir liegt ein wichtiger Tag."
Tally nickte. Sie war noch nie so erschöpft gewesen. Ihre Muskeln schmerzten und ihr Gesicht und ihre Hände taten jetzt wieder weh. Aber sie war von Erleichterung überwältigt. Dieser Albtraum hatte vor drei Monaten begonnen, als Peris den Fluss überquert hatte. Aber nun würde er bald zu Ende sein.
"Alles klar, Peris. Wir sehen uns bald. So bald wie möglich."
Er drückte sie noch einmal an sich, küsste ihre salzigen, zerkratzten Wangen und flüsterte: "Vielleicht schon übermorgen. Ich bin ja so aufgeregt."
Er sagte noch einmal "Auf Wiedersehen" und ging, wobei er sich vorher im Treppenhaus nach allen Seiten umsah. Tally schaute aus dem Fenster, um noch einen Blick auf Peris zu werfen, und sah, dass unten ein Hubwagen auf ihn wartete. Die Pretties bekamen wirklich alles, was sie wollten.
Tally wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich schlafen zu können, aber sie musste ihren Entschluss sofort in die Tat umsetzen. Sie wusste, jetzt, wo Peris gegangen war, würden die Zweifel sich wieder einstellen und ihr keine Ruhe lassen. Sie konnte nicht noch so einen Tag ertragen, ohne zu wissen, ob dieses Ugly-Fegefeuer jemals ein Ende nehmen würde. Und sie hatte Peris versprochen, so bald wie möglich zu ihm zu kommen.
"Tut mir leid, Shay", sagte sie leise.
Dann nahm sie ihren Interface-Ring vom Nachttisch, wo er die ganze Zeit gelegen hatte, und steckte ihn an. "Nachricht für Dr. Cable oder wen auch immer", sagte sie zu dem Ring. "Ich werde tun, was ihr wollt. Lasst mich nur erst eine Runde schlafen. Nachricht zu Ende."
Tally seufzte und ließ sich wieder auf ihr Bett sinken. Sie wusste, dass sie noch einmal ihre Schrammen einsprühen müsste, ehe sie einschlief, aber beim bloßen Gedanken an eine Bewegung tat ihr ganzer Körper weh. Ein paar Dutzend Kratzer würden sie heute nicht vom Schlafen abhalten können. Nichts könnte das.
Sekunden später sagte das Zimmer: "Antwort von Dr. Cable. Wir schicken einen Wagen, er ist in zwanzig Minuten da."
"Nein", murmelte sie, wusste aber, dass Widerspruch hier zwecklos wäre. Die Specials würden kommen, sie würden sie aufwecken, sie würden sie mitnehmen.
Tally beschloss, wenigstens ein paar Minuten zu schlafen. Das wäre doch besser als nichts.
Aber in den nächsten zwanzig Minuten machte sie nicht ein einziges Mal die Augen zu.
Infiltratorin
Die grausamen Pretties sahen für erschöpfte Augen noch unmenschlicher aus. Tally kam sich vor wie eine Maus in einem Käfig voller Habichte, die nur darauf wartete, dass einer sich auf sie stürzte und packte. Beim Flug mit dem Hubwagen war ihr diesmal noch schlechter geworden.
Sie konzentrierte sich auf die Übelkeit, die an ihrem Magen zerrte, und bemühte sich zu vergessen, warum sie hier war. Als Tally und ihr Begleiter durch den Korridor gingen, versuchte sie sich zusammenzureißen, sie steckte ihr Hemd in die Hose und
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