Verliere nicht dein Gesicht
ein Spiegelbild, aber aus allernächster Nähe, zeigte es Tally so, wie sie gerade aussah: mit geschwollenen Augen, zerzaust, erschöpft, mit roten Schrammen im Gesicht, ihre Haare standen nach allen Seiten ab und ihr Gesichtsausdruck verwandelte sich in Entsetzen, als sie ihr eigenes Bild sah.
"Das bist du, Tally. Für immer."
"Schalten Sie das aus."
"Entscheide dich."
"Okay. Ich tu's. Schalten Sie es aus."
Die Bildwand wurde dunkel.
Teil 2
Smoke
Keine noch so große Schönheit gibt es, an der sich nicht irgend etwas Unregelmäßiges in ihren Verhältnissen fände.
Francis Bacon, "Über Schönheit", Essays oder praktische und moralische Ratschläge
Aufbruch
Tally brach um Mitternacht auf.
Dr. Cable hatte es ihr verboten, anderen von ihrer Mission zu erzählen, auch den Hütern in ihrem Haus in der Schule. Peris durfte gern Gerüchte verbreiten - den Klatsch der neuen Pretties glaubte ohnehin niemand. Aber nicht einmal ihre Eltern würden offiziell darüber informiert werden, dass Tally zum Weglaufen gezwungen worden war. Abgesehen von ihrem kleinen Herzanhänger war sie jetzt ganz allein.
Sie verließ das Haus auf die übliche Weise, durch das Fenster und hinter dem Recycler nach unten. Ihr Interface-Ring blieb auf dem Nachttisch liegen und Tally nahm außer ihrem Überlebens-Rucksack und Shays Zettel nichts mit. Sie hätte fast ihren Bauchsensor vergessen, hakte ihn aber im letzten Moment noch fest. Der Mond war noch immer halbvoll und nahm zu. Immerhin würde sie unterwegs ein wenig Licht haben.
Am Damm wartete ein spezielles Langstreckenhubbrett. Es bewegte sich kaum, als sie daraufstieg. Die meisten Bretter gaben ein wenig nach, wenn sie sich dem Gewicht ihrer Benutzer anpassten, sie wippten wie ein Sprungbrett, aber das hier war einfach fest. Tally schnippte mit den Fingern und das Brett hob sich unter ihr und blieb unter ihren Füßen solide wie Beton.
"Nicht schlecht", sagte sie, dann biss sie sich auf die Lippe. Seit Shay vor zehn Tagen weggelaufen war, hatte Tally angefangen, Selbstgespräche zu führen. Das war kein gutes Zeichen. Sie würde jetzt zumindest für einige Tage ganz allein sein, und das Letzte, was sie brauchte, waren weitere eingebildete Gespräche.
Das Brett glitt geschmeidig vorwärts und hob sich der Dammkrone entgegen. Als Tally sich über dem Fluss befand, trieb sie ihr Brett zur Eile an und beugte sich vor, bis der Fluss nur noch ein blaues Schimmern unter ihren Füßen war. Das Brett schien keine Temporegulierung zu haben - es gab keine Sicherheitswarnung. Vielleicht waren seine einzigen Grenzen die offene Fläche vor ihr, das Metall im Boden und Tallys Füße, die fest darauf stehen blieben.
Tempo war jetzt alles, wenn sie die letzten vier Tage in der Vorhölle wieder wettmachen wollte. Wenn Tally zu lange nach ihrem Geburtstag auftauchte, könnte Shay vermuten, dass die Operation verschoben worden war. Und dann könnte sie auch erraten, dass Tally kein normaler Flüchtling war.
Der Fluss zog immer schneller unter ihr dahin und in Rekordzeit hatte sie die Stromschnellen erreicht. Gischttropfen bohrten sich wie Hagelkörner in ihre Haut, als sie die ersten Wasserfälle erreichte, und Tally lehnte sich zurück, um ihr Tempo ein wenig zu drosseln. Trotzdem brachte sie die Stromschnellen rascher hinter sich als je zuvor.
Tally ging auf, dass dieses Hubbrett kein Ugly-Spielzeug war. Es war echte Ware. An seinem vorderen Ende glühte ein Halbkreis aus Lichtern. Er reagierte auf den Metalldetektor des Brettes, der ständig überprüfte, ob im Boden genug Metall vorhanden war, um sie oben zu halten. Die Lichter flackerten nicht einmal, als sie an den Stromschnellen hochstieg, und Tally hoffte, dass Shay Recht gehabt hatte und dass es wirklich in jedem Fluss Metallablagerungen gab. Wenn nicht, konnte das eine sehr lange Wanderung werden.
Natürlich würde sie bei diesem Tempo keine Zeit zum Anhalten haben, wenn plötzlich die Lichter ausgingen. Was dann die Reise sehr kurz machen würde.
Aber die Lichter brannten stetig weiter und Tallys Nerven wurden beruhigt vom Tosen des Wildwassers, von den kalten Ohrfeigen, die die Gischt ihr verpasste, und von dem erregenden Gefühl, ihren Körper in der vom Mondschein durchsetzten Dunkelheit in eine Kurve nach der anderen zu legen. Das Brett war klüger als ihr altes, es hatte innerhalb von wenigen Minuten ihre Bewegungen gelernt. Es
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