Verliere nicht dein Gesicht
hindurchfuhr. Ein Trio von Pickeln explodierte auf ihrer Stirn, wie um die Tage seit ihrem sechzehnten Geburtstag zu markieren. Ihre zu kleinen wässrigen Augen starrten sie aus dem Spiegel voller Wut an. Nur nachts konnte sie dem winzigen Zimmer entkommen, dem nervösen Starren, ihrem eigenen hässlichen Gesicht.
Sie führte die Hüter hinters Licht und kletterte wie immer aus dem Fenster, hatte aber keine Lust auf irgendwelche größeren Tricks. Sie konnte niemanden besuchen, niemandem einen Streich spielen, und allein die Vorstellung, den Fluss zu überqueren, tat schon viel zu weh. Sie hatte sich ein neues Hubbrett besorgt und es so frisiert, wie sie es von Shay gelernt hatte, deswegen konnte sie nachts wenigstens fliegen.
Aber auch Fliegen war nicht mehr dasselbe. Sie war allein, es wurde nachts schon kalt, und egal, wie schnell sie flog, Tally saß in der Falle und wusste das auch.
In der vierten Nacht ihres Ugly-Exils flog sie bis zum grünen Gürtel und hielt sich am Stadtrand auf. Sie schoss hin und her, vorbei an den dunklen Säulen aus Baumstämmen, jagte im Spitzentempo zwischen ihnen hindurch, so schnell, dass ihre Hände und ihr Gesicht Dutzende von Schrammen abbekamen von den vorüberzischenden Zweigen.
Nach einer Weile hatte das Fliegen einen Teil ihrer Ängste vertrieben und Tally kam zu einer glücklichen Erkenntnis: So war sie noch nie geflogen, sie war jetzt fast so gut wie Shay. Kein einziges Mal warf das Brett sie ab, weil sie zu dicht an einen Baum geraten war, und ihre Schuhe klammerten sich an die Griffoberfläche, als ob sie dort festgeklebt wären. Sie geriet trotz der herbstlichen Kühle ins Schwitzen, aber sie machte weiter, bis ihre Beine müde waren, ihre Fußknöchel schmerzten und ihre Arme wehtaten, weil sie sie die ganze Zeit ausgestreckt hatte wie Flügel, um ihren Weg durch den dunklen Wald zu finden. Wenn sie die ganze Nacht so weitermachte, überlegte Tally, würde sie morgen vielleicht das schreckliche Tageslicht verschlafen können.
Sie flog, bis die Erschöpfung sie zur Heimkehr zwang.
Als sie in der Morgendämmerung in ihr Zimmer kletterte, wartete jemand auf sie.
***
"Peris!"
Sein Gesicht öffnete sich zu einem strahlenden Lächeln, seine großen Augen leuchteten im frühen Licht wunderschön auf. Aber als er genauer hinsah, änderte seine Miene sich. "Was ist mit deinem Gesicht passiert, Scheelauge?"
Tally kniff die Augen zusammen. "Weißt du das noch nicht? Sie haben die Op..."
"Das meine ich nicht." Peris streckte die Hand aus und berührte ihre Wange, die unter seinen Fingerspitzen schmerzte. "Du siehst aus, als ob du die ganze Nacht mit Katzen jongliert hättest."
"Ach so." Tally fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und wühlte in einer Schublade. Sie zog Medspray heraus, schloss die Augen und spritzte sich das Gesicht voll.
"Au", jammerte sie in den wenigen Sekunden, ehe das schmerzstillende Mittel seine Wirkung tat. Sie besprühte auch ihre zerkratzten Hände. "Nur eine Runde Hubbrett um Mitternacht."
"Und ein wenig über Mitternacht hinaus, meinst du nicht?" Hinter dem Fenster fing die Sonne jetzt gerade an, die Türme von New Pretty Town rosa zu färben. Katzenkotzerosa. Tally sah Peris an, erschöpft und verwirrt. "Wie lange bist du schon hier?"
Er rutschte unbehaglich in ihrem Fenstersessel hin und her. "Lange genug."
"Tut mir leid. Ich wusste doch nicht, dass du kommst."
Er hob die Augenbrauen in schöner Besorgnis. "Natürlich bin ich gekommen. Sowie ich herausgefunden hatte, wo du steckst, bin ich gekommen."
Tally wandte sich ab und band die Schnürsenkel ihrer Griffschuhe auf, während sie versuchte sich zu sammeln. Sie hatte sich seit ihrem Geburtstag so verlassen gefühlt. Auf die Idee, dass Peris sie vielleicht sehen wollte, noch dazu hier in Uglyville, war sie nicht gekommen. Aber hier saß er nun, besorgt, fürsorglich, wunderschön.
"Schön, dich zu sehen", sagte sie und spürte, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Ihre Augen waren derzeit fast immer rot und geschwollen.
Er strahlte sie an. "Ebenfalls."
Die Vorstellung, wie sie jetzt aussah, war zu viel. Tally fiel auf ihr Bett, schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Peris setzte sich neben sie und berührte ihre Schulter, während sie sich ausweinte, dann putzte er ihr die Nase und zog sie zu sich hoch. "Nun sieh dich an, Tally Youngblood."
Sie schüttelte den Kopf. "Bitte, nicht."
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