Verlockung der Leidenschaft: Roman (German Edition)
zwischen Licht und Dunkel schwebte er dahin. Er war sich des Schmerzes bewusst, doch er erreichte ihn nicht wirklich.
Dann kam er abrupt zurück zu ihm. Und mit dem Schmerz die Erinnerung. Die Schüsse, der rachsüchtige Browne, der Tritt, der ihn schließlich ins dunkle Vergessen schickte.
Irgendwie wusste er, dass seine Mattigkeit ihn in große Gefahr brachte, er tat nichts und lag einfach nur da. Er war verletzt und verlor viel Blut. Wenn er nichts unternahm, würde er sterben, und wenn er in seinem Leben irgendwann um sein Leben hatte ringen wollen, dann jetzt.
Los, hoch mit dir, Jon. Lass diesen Mistkerl nicht gewinnen. Denk an Addie. Denk an Cecily.
Ein Schatten fiel über ihn, und er erkannte, dass es sich um Seneca handelte. Sein Pferd schnaubte unruhig und stupste sein Bein an. Er war nicht überrascht, dass das Pferd bei ihm geblieben war. Er besaß den Hengst, seit er noch ein Fohlen war, und er hatte ihn eigenhändig ausgebildet. Es war jedoch ziemlich deutlich, wie sehr der Geruch von Blut dem Tier missfiel.
Das Wunder war aber der Zügel, der vom Halfter baumelte und am Boden schleifte.
»Näher«, krächzte Jonathan. Er hatte einen widerlich metallischen Geschmack im Mund. Beim Versuch, den Zügel zu ergreifen, fürchtete er, erneut in Ohnmacht zu fallen.
Obwohl er sich absolut nicht sicher war, ob Seneca ihn verstand oder ob er einfach Glück hatte, drehte das Pferd seinen Kopf zumindest so weit, dass der Strick seine Hand streifte und er danach greifen konnte. Mit zusammengebissenen Zähnen nutzte er diesen Halt, um sich nach oben zu ziehen. Er schwankte und fluchte leise in der Sprache seiner Mutter. Ihm kamen Worte über die Lippen, die einen durchschnittlichen Engländer hätten erbleichen lassen.
Aber er kam irgendwie auf die Füße. Jetzt wünschte er sich, er hätte heute Früh doch auf einem Sattel bestanden, denn in diesem geschwächten Zustand auf den Rücken seines Pferds zu kommen, war eine spannende Herausforderung. Er lehnte sich gegen Senecas massigen Körper und drehte sich langsam um. Er entdeckte einen umgefallenen Baum und fragte sich, ob der vielleicht taugte, um sich auf den Pferderücken zu hieven. Vielleicht. Wenn er es schaffte, zu dem Baum zu gelangen.
Es waren etwa zwanzig Schritte, die er noch heute Morgen in wenigen Sekunden hätte laufen können. Jetzt dauerte es fünf schmerzhafte Minuten, bis er dort anlangte. Sein Hemd, das vom Blut inzwischen ganz steif war, hatte er komplett durchgeschwitzt, bis er es endlich geschafft hatte. Er war nicht sicher, ob er je aufsteigen könnte. Vielleicht hatte er unnötige Kraft verschwendet, nur weil er gehofft hatte, dank des Baumstumpfs besser auf den Rücken von Seneca zu gelangen.
Irgendwie gelang es ihm trotz zunehmender Schwäche, seinen Fuß auf die umgestürzte Ulme zu setzen. Er hielt das Gleichgewicht, indem er die Faust in die Mähne des Pferds krallte. Sein alter Freund stand ganz ruhig da und wartete geduldig, obwohl er sonst nie so entspannt war und nur darauf aus, zum nächsten Galopp anzusetzen. Endlich glitt Jonathan in einer halb sitzenden Position auf den Pferderücken. Der Zügel baumelte immer noch am Boden, er konnte dem Tier nicht die Richtung weisen außer durch den Druck seiner Knie und ein behutsames Stupsen mit einer Ferse. Doch beides war ihm im Moment schlicht unmöglich.
»Zurück«, flüsterte er.
Vielleicht verstand Seneca die Anweisung, vielleicht war es ein Geschenk der Götter. Vielleicht verstand das Pferd auch einfach, dass es nun, da sein Herr auf seinem Rücken hing, wieder heim in den Stall durfte, wo ihn nach dem morgendlichen Ausritt wie jeden Tag Hafer, Wasser und eine bequeme Box erwarteten. Was auch der Grund sein mochte, Seneca drehte sich in die richtige Richtung und ging los.
Jonathan konnte sich kaum auf dem Pferderücken halten. Er sank auf den Hals seines Tiers. Der Nebel neuerlicher Bewusstlosigkeit überflutete wie ein flüchtiger Geist seine Sinne.
Kapitel 27
Lily gab sich große Mühe, einen begeisterten Eindruck zu machen, als Sir Norman sich erbot, mit ihr durch den Park zu spazieren. Sie lächelte so freundlich wie möglich. Sie standen auf der Freitreppe und konnten sofort losgehen, doch ehe sie ihm eine Antwort geben konnte, bemerkte sie das Pferd, das langsam die Einfahrt entlangtrottete.
Es war nicht schwierig, den großen, kräftigen und pechschwarzen Hengst ihres Bruders zu erkennen. Sie hatte sich schon gefragt, warum Jonathan den ganzen Tag durch
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