Verlockung der Leidenschaft: Roman (German Edition)
Abwesenheit glänzte, doch als das Pferd näher kam, erkannte sie, dass es deutlich langsamer ausschritt als sonst. Dann erst bemerkte sie, dass der Reiter fehlte.
Oder war da jemand auf dem Pferderücken?
Entsetzen überkam sie, als sie auf dem Rücken des Tiers eine Gestalt ausmachte, denn niemand außer ihrem Bruder durfte auch nur daran denken, dieses widerspenstige Tier zu reiten. Der Reiter lag halb auf dem Pferdehals, ein Arm baumelte herunter.
»Helft mir.« Sie packte ohne Umschweife den Arm ihres Begleiters und zerrte ihn praktisch die Stufen herunter. »Schnell!«
»Meine werte Lady«, stotterte Sir Norman. Aber dann schien auch er zu entdecken, was sie dazu veranlasste, die lange Einfahrt hinabzurennen. Sie hörte ihn murmeln: »Lieber Himmel. Ach du lieber Himmel!«
Wenigstens war ihr Möchtegernverehrer – er war einer von der Sorte, die offensichtlich anständig, aber verarmt waren – jung und recht gut gebaut. Ihr Bruder war nämlich ein großer Mann.
Wenn sie überhaupt noch einen Bruder hatte.
Blut. Überall war Blut … An der Flanke des Pferds strömte und tropfte es herunter, und Jonathans Hemd war dunkelrot verfärbt. Seine rechte Schulter ruhte auf dem Widerrist des Pferds. Obwohl sich sonst niemand Seneca nähern durfte, schon gar keine Frau mit laut raschelnden Röcken, blieb er jetzt einfach stehen und schaute ihr mit seinen großen, feuchten Augen entgegen. Seine Haltung war gespannt, aber er regte sich nicht.
»Was ist passiert? Lieber Himmel … Ich kann nicht … Oh, meine Liebe, ich …«
Wenn Sir Norman noch länger so vor sich hin brabbelte, würde Lily den letzten Rest ihres guten Rufs noch ruinieren, indem sie einen Baronet in der Einfahrt zum Anwesen des Dukes ermordete. »Helft mir, ihn vom Pferderücken zu holen«, befahl sie. Das hübsche, neue Kleid aus gekräuseltem Musselin, das sie heute zum ersten Mal trug und das recht ansprechend war, kümmerte sie jetzt nicht mehr. Sie bezweifelte, ob es Jonathan etwas ausmachte, wenn sie es unter diesen Umständen ruinierte. »Vorsichtig. Er ist schwer verletzt.«
Sein blutig zerschundener Körper war kaum anzusehen. Zum Glück hatte auch einer der Diener gesehen, was vor sich ging, denn er kam jetzt in größter Eile zu ihnen gerannt. Zu dritt gelang es ihnen, Jonathan vom Rücken seines Pferdes zu ziehen.
Unter seiner bronzefarbenen Haut war er totenbleich, als sie ihn behutsam hinlegten. Sein langes, rabenschwarzes Haar war verschwitzt und verklebt. Selbst seine Lippen waren ganz farblos. Lily konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken, und wenn sie nicht das leichte Flattern seiner Augenlider gesehen hätte, wäre sie wohl hysterisch geworden. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, wie sehr sie ihn wohl vermissen würde, nachdem sie sich doch gerade erst kennengelernt hatten. Wenn das hier so schlimm war, wie es aussah …
»Verflucht noch eins.« Sir Norman war derweil ganz grün im Gesicht geworden. »Er … er wurde angeschossen.«
Der Diener, ein junger Schotte, wirkte auch ziemlich blass um die Nase angesichts von so viel Blut. Aber wenigstens machte er auf sie nicht den Eindruck, als werde er gleich in Ohnmacht fallen. Deshalb entschied sie, ihn mit einer wichtigen Aufgabe zu betrauen. Scharf sprach sie ihn an. »Los, lauf zum Haus zurück und sag der Duchess, Lord Augustine sei ernsthaft verletzt. Hier wird schleunigst ein Arzt benötigt. Dann schick uns Hilfe, damit wir ihn irgendwie ins Haus bekommen. Los jetzt!«
Der junge Mann nickte und rannte in einem Tempo los, das sie zufrieden zur Kenntnis nahm. Er schien zu wissen, dass Eile geboten war. Sir Norman hingegen zückte ein Taschentuch und machte Anstalten, sich die Stirn abzuwischen. Aber Lily streckte die Hand nach dem Taschentuch aus. »Seid so gut und gebt mir das.«
Sie wusste so ziemlich überhaupt nichts darüber, wie man eine Schusswunde versorgen musste. Aber ihr war immerhin klar, dass sie Jonathans Blutungen stoppen musste. Sie faltete das weiße Rechteck und drückte es gegen die Schulterwunde ihres Bruders. Sie wurde mit einem erstickten Stöhnen belohnt.
Er ist noch nicht tot.
Schnell jetzt.
» Gebt mir Eure Krawatte. Und zieht das Hemd aus.« Sie blickte zu Sir Norman auf. »Bitte, seid so gut. Wir müssen ihm ein paar Verbände anlegen, und ich brauche Stoff, um seine Wunden notdürftig zu versorgen.«
Sie hielt ihm zugute, dass er seinen Mantel langsam auszog. Aber dann nuschelte er: »Kann mein Hemd
Weitere Kostenlose Bücher