Verlogene Schoenheit - Vom falschen Glanz und eitlen Wahn
nahegebracht. Ein guter Schönheitschirurg muss kunstverständig sein. Er muss Ästhetik und schöne Formen lieben, und in diesem Bereich hätte ich keinen besseren Lehrmeister haben können als Ivo Pitanguy – der im überaus kunstvoll zu leben versteht. Salvador Dalì, ein guter Freund (und Patient?), widmete ihm eine Skulptur. Er setzte Pitanguys Kopf auf einen Pferdekörper und machte ihn zum Kentar. Ivos Kunstsammlung – darunter Werke von Picasso, Chagall, Matisse, Magritte, Miró – würde die meisten Museen schmücken. Sein Credo: »Sensibilität für Ästhetik ist die wichtigste Eigenschaft, um einen Beruf wie meinen erfolgreich ausüben zu können.« Und er kümmert sich um zeitgenössische Kunst wohl nicht zuletzt deshalb, weil sein Sohn Bernardo zur Crème der Gegenwartskünstler Brasiliens zu zählen ist. »Malerei ist meine Leidenschaft, weil sie mit der Poesie verwandt ist«, sagt er. Ich habe nie wieder einen Mediziner erlebt, der so belesen ist wie Ivo Pitanguy. Französische Literatur liest er im Originaltext, überhaupt ist er ein Sprachengenie. Italienisch, Französisch, Spanisch und Englisch spricht er akzentfrei, und sein Deutsch ist beinahe perfekt.
Ivo lebt wie ein Künstler in gediegenem Luxus, der bei ihm so selbstverständlich und lässig wirkt, als wäre er hineingeboren, was aber nicht der Fall ist. Alles hat er sich erarbeitet: eine Privatinsel »Ilha dos Porcos Grande«, wo der Umweltschützer Pitanguy ein ökologisches Schutzgebiet errichtet hat, in dem Fauna und Flora ohne äußere Einflüsse gedeihen, seinen Privathubschrauber, seine Villa inmitten eines üppig blühenden Tropengartens in Gávea, einem der Nobelvororte von Rio, sein Chalet von Gstaad in den Schweizer Alpen, sein Appartement in Paris, die Fülle der Kunstwerke, die er gesammelt hat und mit seiner Frau Marilu, mit der er über fünfzig Jahre verheiratet ist, sehr bewusst genießt. Dennoch hält er sich eisern an Disziplin. Seine Vitalität verdankt er einer positiven Lebensenergie und dem Sport. Ivo und Marilu trainieren dreimal in der Woche Karate, er schwimmt, geht tauchen, fährt im
Winter in der Schweiz Ski, fischt und ist ein leidenschaftlicher Tennisspieler. »Bewegung ist die Basis für Gesundheit und Attraktivität«, pflegt er zu sagen. Das ist auch meine Meinung.
Er steht mit über achtzig Jahren noch immer fast täglich am OP-Tisch
In seiner Clínica Ivo Pitanguy in der Rua Dona Mariana im vornehmen Ortsteil Botafogo ist er nach wie vor der Mittelpunkt. Er hat dieses weltberühmte Institut 1963 in einem Villenanwesen gegründet. Inzwischen arbeiten dort über siebzig Menschen, Ärzte, Krankenschwestern, Pflege- und Verwaltungspersonal. Pitanguy ist trotz seines hohen Alters überaus aktiv. Er operiert fast jeden Tag in einem seiner drei OP-Säle. Auch diesbezüglich hat er Vorbildfunktion für mich. Wenn ich fit und gesund bleibe, möchte ich auch bis ins hohe Alter operieren. Mittlerweile hat seine Tochter Dr. Gisela Pitanguy, Ärztin und Physiotherapeutin, die Leitung der Klinik übernommen. Die Mutter von drei Kindern hat offensichtlich die soziale Intelligenz ihres Vaters geerbt. Sie begleitet und unterstützt die Patienten während des gesamten Prozesses ihrer körperlichen Veränderung. In enger Zusammenarbeit mit den Chirurgen befasst sie sich schon vor der Operation mit den Beweggründen ihrer Patienten. Denn oft steht hinter dem Wunsch nach einem veränderten Äußeren eine lange persönliche Leidensgeschichte, die Gisela im gemeinsamen Gespräch analysiert und ergründet. Um voreilig getroffene Entscheidungen und Enttäuschungen zu vermeiden, stehen für sie die intensive Auseinandersetzung und Selbstanalyse eines jeden Patienten im Vordergrund. So halten wir es auch in der Bodenseeklinik.
Ivo Pitanguy hat zahlreiche Sachbücher und über 1000 wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht. Neben seiner Arbeit als Chirurg kümmert er sich um die Ausbildung des chirurgischen Nachwuchses. Dem sagt er Sätze, die wie in Stein gemeißelt sind: »Ein völlig symmetrisches Gesicht wirkt monoton. Die Medien zeigen fast immer diese statuarische Schönheit. Sie wirkt wie eine Totenmaske,
das Gegenteil von Leben. Meinen Patientinnen muss ich immer wieder erklären, dass Schönheit aus einer glücklichen Kombination winziger Abweichungen vom Regelmaß entsteht, nicht aus der Aneinanderreihung von idealtypischen griechischen Nasen, Mandelaugen oder Schmolllippen.« Wie sehr und wie übertrieben
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