Verloren unter 100 Freunden
ein ungestörtes Gespräch führen möchte, sollte man sich mit dem anderen von Angesicht zu Angesicht unterhalten. Falls das nicht möglich ist, muss man telefonieren. Wenn man am Computer sitzt, gibt es zu viele Ablenkungen, denn die Kiste bietet einfach zu viel anderes Zeug, das man tun könnte, anstatt sich mit jemandem zu unterhalten.«
Die physische Welt ist nicht immer ein ruhiger Ort. Überall gibt es Darbietungen, überall werden Rollen gespielt – an der Schule, in der Familie, beim Rendezvous. Doch wenn junge Menschen davon erzählen, wie sie sich ihre digitalen Identitäten zurechtbasteln und ummodeln, akzeptieren sie zwar die Realität dieses neuen sozialen Milieus, betonen aber stets, dass das Online-Leben eine neue Art des »Wahnsinns« darstelle. Es gibt so viele Webseiten, Spiele und Welten. Man muss sich merken, wie man sich an den verschiedenen Orten dargestellt hat. Und natürlich fordert das Nachrichtenschreiben fortwährend die eigene Aufmerksamkeit. »Sie ahnen nicht, wie sehr«, seufzt ein erschöpfter Brad.
Die Gefahren der Selbstdarstellung
Brad sagt nur halb im Scherz, dass er Angst davor habe, seine Selbstdarstellung im Online-Leben mit seinem »wahren« Ich zu verwechseln. Weil er noch nicht am Ende seiner Identitätsfindung angelangt ist, macht es ihn nervös, Dinge über sich zu posten, von denen er nicht wirklich weiß, ob sie wahr sind. Es belastet ihn, dass die Dinge, die er im Netz über sich verbreitet, sich darauf auswirken, wie die Menschen ihn im wahren Leben behandeln. Das sei schon des Öfteren geschehen. Brad ringt darum, auf Facebook mehr »er selbst« zu sein, aber dies sei schwierig. Er sagt, zwar versuche
er auf Facebook »ehrlich« zu sein, könne aber kaum der Versuchung widerstehen, »den ›richtigen‹ Eindruck zu erwecken«. »Wenn ich auf Facebook etwas schreibe«, sagt er, »bin ich immer auf die Wirkung bedacht. Ich frage mich: Falls ich es so schreibe, klinge ich dann vielleicht verklemmt? Oder wenn ich es anders schreibe, klinge ich dann wie jemand, dem alles egal ist?« Er gibt sich Mühe, »auf Facebook spontaner zu sein … aktiv zu sagen: ›So bin ich, das mag ich und das nicht‹«, aber er hat das Gefühl, Facebook würde seine Anstrengungen »pervertieren«, weil eine Selbstoffenbarung an Menschen gerichtet sein sollte, »denen etwas an mir liegt«. Für Brad verlieren die Dinge an Bedeutung, wenn man sie im Rahmen des eigenen Profils veröffentlicht.
Das Internet kann beim konstruktiven Spiel mit der Identität eine hilfreiche Rolle spielen, obwohl es, wie wir gesehen haben, nicht einfach ist zu experimentieren, wenn jeder Versuch archiviert wird. Aber Brad gesteht, dass er auf Facebook nur wisse, wie man mit der großen Masse umgeht. Wir haben gesehen, wie lange er überlegt, in welcher Reihenfolge er seine Lieblingsbands aufzählen soll. Er grübelt nach, welche Filme er als Favoriten auflisten soll und welche ihn wie einen Langweiler oder Sexisten aussehen lassen könnten. Es besteht eine gute Chance, dass die Leute es positiv aufnehmen würden, falls er die Harry-Potter-Bücher als Lieblingslektüre auflistet. Aber gleichzeitig besteht die Gefahr, dass es ihn weniger sexy erscheinen lassen würde. Brad erzählt, dass die Leute im wahren Leben erkennen können, dass man cool ist, selbst wenn man einige uncoole Dinge mag. In einem Profil ist kein Platz für Fehler. Man wird auf eine Reihe richtiger und falscher Entscheidungen reduziert. »Im Online-Leben«, sagt er, »geht es immer um die Außenwirkung.« Brad fasst seine Unzufriedenheit mit einem altmodischen Wort zusammen: Das Online-Leben hemme die »Authentizität«. Er möchte andere Menschen direkt erleben. Wenn er liest, was andere
auf Facebook über sich selbst schreiben, habe er das Gefühl, lediglich ein Zuschauer bei ihrer coolen Selbstdarstellung zu sein.
In Brad steckt mehr als nur ein bisschen von Henry David Thoreau. In Walden , veröffentlicht 1854, merkt Thoreau an, wir hätten zu viel willkürlichen, oberflächlichen Kontakt miteinander. Wir könnten einander nicht respektieren, wenn wir ständig »übereinander stolpern«. 4 Er sagt, wir führten ein zu »dichtes« Leben und seien unfähig, uns gegenseitig wertzuschätzen, weil die Abstände zwischen den Begegnungen mit anderen Menschen zu gering seien. »Die Gesellschaft anderer«, schreibt Thoreau, »ist für gewöhnlich zu billig.« 5 Es sei besser, etwas zu lernen oder Erfahrungen zu machen, ehe wir uns in die
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