Verlorene Illusionen (German Edition)
seine gelegentlich schroffe Redeweise zeugten davon, daß er mit dem literarischen Leben eine bittere Bekanntschaft geschlossen hatte. Etienne war mit seiner Tragödie in der Tasche von Sancerre nach Paris gekommen; das nämliche hatte ihn angezogen, was Lucien nicht ruhen ließ: Ruhm, Macht und Geld. Dieser junge Mann, der zuerst einige Tage hintereinander da aß, kam dann nur noch hin und wieder. Als Lucien seinen Dichter, nachdem er fünf oder sechs Tage abwesend gewesen war, einmal wieder vorfand, hoffte er, ihn am nächsten Tag wiederzusehen; aber am nächsten Tag war der Platz von einem Unbekannten besetzt. Wenn junge Leute sich an einem Tage gesehen haben, wirkt das Feuer der Unterhaltung noch am nächsten Tage nach; aber diese Pausen nötigten Lucien jedesmal, das Eis von neuem zu brechen, und verzögerte so die Intimität, die während der ersten Wochen geringe Fortschritte machte. Lucien fragte die Büfettdame und erfuhr, sein künftiger Freund wäre Redakteur eines Blättchens, für das er Artikel über neue Bücher schriebe und über Stücke, die im Ambigu Comique, in der Gaieté, im Panorama Dramatique aufgeführt würden, referierte. Der junge Mann wurde mit einem Schlage in Luciens Augen eine gewichtige Person, und er nahm sich vor, die Unterhaltung mit ihm etwas freundschaftlicher zu gestalten und dies oder jenes Opfer zu bringen, um zu einem intimen Verhältnis zu kommen, das für einen Anfänger so wichtig sein konnte. Der Journalist blieb vierzehn Tage weg. Lucien wußte noch nicht, daß Etienne nur bei Flicoteaux aß, wenn er kein Geld hatte, und daß dieser Umstand ihm das düstere, enttäuschte Aussehen und die Kälte gab, der Lucien mit schmeichelndem Lächeln und freundlichen Worten begegnen wollte. Trotzdem mußte diese Verbindung reiflich überlegt werden, denn dieser unbekannte Journalist schien ein kostspieliges Leben zu führen, in dem etliche Gläschen Schnaps, Tassen Kaffee, Punschbowlen, Theatervorstellungen und Soupers eine Rolle spielten. In den ersten Tagen seines Aufenthalts im Quartier latin benahm sich nun Lucien wie ein armer Bursche, den seine erste Bekanntschaft mit dem Pariser Leben betäubt hat. Daher wagte es Lucien, nachdem er die Preise der Gerichte studiert und seine Börse gewogen hatte, nicht, die Gewohnheiten Etiennes anzunehmen, da er fürchtete, die Fehler könnten wieder beginnen, die er immer noch bereute. Er stand immer unter dem Bann der frommen Provinzgefühle, seine beiden Schutzengel David und Eva stellten sich beim kleinsten schlimmen Gedanken vor ihn hin und erinnerten ihn an die Hoffnungen, die man auf ihn setzte, an das Glück, das er seiner alten Mutter schuldig war, und an die reichen Verheißungen seines Geistes. Er verbrachte seine Vormittage auf der Bibliothek Sainte-Geneviève mit geschichtlichen Studien. Seine ersten Forschungen hatten ihn auf schreckliche Irrtümer in seinem Roman ›Der Bogenschütze Karls IX.‹ aufmerksam gemacht. Nach Schluß der Bibliothek ging er in seine feuchte, kalte Kammer, um sein Werk zu korrigieren, er unterdrückte ganze Kapitel und fügte neue hinzu. Nachdem er bei Flicoteaux gegessen hatte, begab er sich in die Passage du Commerce, las im Lesezimmer von Blosse Neuerscheinungen der Literatur, Zeitungen, Zeitschriften und Gedichtbücher, um über den Stand der geistigen Strömungen auf dem laufenden zu sein, und kehrte gegen Mitternacht in sein elendes Hotel zurück, ohne Holz oder Licht gebraucht zu haben. Diese Lektüre brachte in seinem Geiste einen solchen Umschwung hervor, daß er seine Sammlung Sonette über die Blumen, seine geliebten ›Margueriten‹ wieder vornahm und sie so radikal umarbeitete, daß keine hundert alte Verse stehen blieben. So führte also Lucien anfangs das unschuldige, reine Leben der jungen Menschen, die arm aus der Provinz kommen, die es bei Flicoteaux, wenn sie die Kneipe mit dem vergleichen, wie es im Vaterhause zuging, üppig finden, die sich auf Spaziergängen in den Alleen des Luxembourg erholen, wo sie mit scheuen Blicken und schwerem Herzen die schönen Frauen ansehen; das Leben der Jünglinge, die das Quartier latin nicht verlassen und in heiligem Eifer sich der Arbeit widmen und an ihre Zukunft denken. Aber Lucien, der zum Dichter geboren war, fühlte bald unbezwingliche Wünsche in sich aufsteigen und hatte keine Kraft mehr gegen die Verführungen der Theateranzeigen; das Théâtre Français, das Vaudeville, Les Variétés, die Opéra Comique, wo er ins Parterre ging, nahmen
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