Verlorene Illusionen (German Edition)
Leute, die sich nichts um die Phasen der Natur kümmern, keine Ahnung haben. Der Student, der im Quartier latin haust, hat dagegen die genaueste Kenntnis der Jahreszeiten: er weiß, wann die Bohnen und die Schoten kommen, wann die `Halle´ mit Kohl vollgepfropft ist, er weiß, welcher Salat gerade im Überfluß vorhanden ist, und ob es wenig rote Rüben gibt. Eine alte Verleumdung, die auch in dem Augenblick, wo Lucien hinzog, noch nicht verstummt war, brachte das Auftauchen von Beefsteaks in Verbindung mit der Sterblichkeit der Pferde. Wenige Pariser Restaurants bieten ein so schönes Bild. Man findet da nur Jugend und Zuversicht, fröhlich ertragene Not, wenn schon manchmal auch leidenschaftliche und düstere, ernste und besorgte Mienen nicht fehlen. Die Kleidung wird im allgemeinen vernachlässigt. Jedoch bemerkt man auch Stammgäste, die gutgekleidet kommen. Sie wissen alle, was dieser außergewöhnliche Aufzug zu bedeuten hat: die Geliebte wird erwartet, man geht ins Theater oder macht einen Besuch in den höhern Sphären. Es haben sich dort, sagt man, Freundschaften zwischen einigen Studierenden geschlossen, die später berühmt geworden sind, wie man es übrigens auch in dieser Geschichte sehen wird. Trotzdem zeigen, mit Ausnahme der Landsleute, die zusammen am selben Tisch sitzen, die Essenden im allgemeinen einen Ernst, der schwer ins Lachen kommt, vielleicht infolge des gut christlich getauften Weins, der sich jeder Ausgelassenheit widersetzt. Die Besucher Flicoteaux' können sich an einige düstere und geheimnisvolle Personen erinnern, die in den Nebel des äußersten Elends eingehüllt waren und wohl zwei Jahre da aßen und dann wieder verschwanden, ohne daß selbst die neugierigsten Stammgäste etwas über diese dunklen Existenzen von Paris erfahren hätten. Die Freundschaften, die bei Flicoteaux begannen, wurden in den benachbarten Cafés bei der Glut eines gewürzten Punsches oder bei der Wärme einer kleinen Tasse Kaffee, der mit irgendeinem Schnaps gereicht wurde, besiegelt.
Während der ersten Tage seines Aufenthalts im Hotel de Cluny hatte Lucien, wie jeder Neuling, ein schüchternes und gesetztes Benehmen. Nach dem traurigen Scheitern des vornehmen Lebens, das sein Geld verzehrt hatte, warf er sich mit der ersten Hitze auf die Arbeit, die von den Schwierigkeiten und den Vergnügungen so schnell verscheucht wird, mit welchen Paris die höchsten und niedrigsten Existenzen anlockt und die nur mit der wilden Energie des wahren Talents oder der düstern Entschlossenheit des Ehrgeizes bezwungen werden können. Lucien begab sich schon gegen halb fünf Uhr zu Flicoteaux, nachdem er bemerkt hatte, daß es vorteilhafter war, unter den Ersten einzutreffen; es gab da noch mehr Abwechslung unter den Gerichten, und man fand noch, was man am liebsten aß. Wie jedes poetische Gemüt liebte er einen bestimmten Platz, und seine Wahl war nicht übel. Gleich am ersten Tag, als er bei Flicoteaux verkehrte, hatte er in der Nähe des Büfetts einen Tisch gesehen, an dem die Physiognomien der Essenden und ebenso die Bruchstücke von Gesprächen, die er aufschnappte, ihn Literaten vermuten ließen. Überdies sagte ihm sein Instinkt, daß er, wenn er sich in die Nähe des Büfetts setzte, in irgendeine Art Beziehung zu den Geschäftsführern des Restaurants käme. Auf die Länge der Zeit würde sich eine Bekanntschaft anbahnen, und er erlangte dann an dem Tage des finanziellen Zusammenbruchs ohne Zweifel den nötigen Kredit. Er hatte sich also an einen kleinen viereckigen Tisch neben dem Büfett gesetzt, wo er nur zwei Gedecke mit weißen Servietten ohne Ring sah, die vermutlich für Passanten bestimmt waren. Lucien gegenübersaß ein magerer, blasser junger Mann, der wahrscheinlich ebenso arm wie er selbst war und dessen schon welkes schönes Gesicht von entschwundenen Hoffnungen sprach, die auf seine Stirn Falten gebracht und in seiner Seele Furchen gelassen hatten, in denen kein Saatkorn mehr sprießen wollte. Lucien fühlte sich durch diese Anzeichen von Poesie und durch eine unwiderstehliche Sympathie zu dem Unbekannten hingezogen.
Dieser junge Mann, der erste, mit dem der Dichter aus Angoulême nach einer Woche kleiner Gefälligkeiten und gelegentlicher Worte und Bemerkungen, die sie austauschten, ins Plaudern kommen konnte, hieß Etienne Lousteau. Wie Lucien war Etienne aus der Provinz, aus einer kleinen Stadt des Berri gekommen und war seit zwei Jahren in Paris. Seine lebhaften Bewegungen, sein leuchtender Blick,
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