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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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vierten Stock dieses Hotels, und obwohl es recht schmutzig und kahl ist, zahle ich immer noch fünfzehn Franken im Monat. Ich habe zum Frühstück für einen Sou Milch und ein kleines Brot für zwei Sous, aber ich esse sehr gut für zweiundzwanzig Sous in der Kneipe eines gewissen Flicoteaux, die sich an der Place de la Sorbonne befindet. Bis zum Winter werden meine Ausgaben sechzig Franken im Monat, alles inbegriffen, nicht übersteigen, so hoffe ich wenigstens. Auf diese Weise werden meine zweihundertvierzig Franken die ersten vier Monate ausreichen. Bis dahin habe ich ohne Zweifel den ›Bogenschützen Karls IX.‹ und die ›Margueriten‹ verkauft. Sei also nicht besorgt um meinetwillen. Die Gegenwart ist kalt, ärmlich und entblößt, aber die Zukunft wird heiter, reich und glänzend sein. Die meisten großen Männer sind durch diese Wechselfälle hindurchgegangen, die mich drücken, aber nicht unterbekommen sollen. Plautus, ein großer komischer Dichter, war Müllersknecht, Machiavelli schrieb seinen ›Fürsten‹ nachts, nachdem er den Tag mitten unter Arbeitern zugebracht hatte. Der große Cervantes, der in der Schlacht von Lepanto mitfocht, zum Sieg dieses großen Tages beitrug und dabei den Arm verlor, wurde von den Skribenten seiner Zeit ein alter plebejischer Krüppel genannt und konnte den zweiten Teil seines herrlichen ›Don Quijote‹ erst zehn Jahre nach dem ersten herausgeben, weil er keinen Verleger fand. So steht es mit uns nicht mehr. Kummer und Elend können nur die unbekannten Talente treffen; aber wenn sie durchgedrungen sind, werden die Schriftsteller reich, und ich werde reich werden. Ich führe übrigens ein geistiges Leben, ich verbringe den halben Tag in der Bibliothek Sainte-Geneviève, wo ich mir die Bildung hole, die mir fehlt, denn ohne die werde ich nicht vorwärts kommen. Heute bin ich also beinah glücklich. In wenig Tagen habe ich mich sehr erfreulich in meine Lage gefunden. Ich widme mich vom frühen Morgen an einer Arbeit, die mir Freude macht; für die Notdurft des Lebens ist gesorgt; ich denke viel, ich studiere, ich sehe nicht, was mich jetzt noch verwundern könnte, nachdem ich der großen Welt entsagt habe, in der meine Eitelkeit jeden Augenblick gekränkt werden konnte. Die berühmten Männer einer Zeit müssen in der Einsamkeit leben. Sind sie nicht wie die Vögel des Waldes? Sie singen, sie bezaubern die Natur, und niemand soll sie gewahren. So wird es mit mir sein, wenn anders ich irgend die ehrgeizigen Entwürfe meines Geistes verwirklichen kann. Ich traure Frau von Bargeton nicht nach. Eine Frau, die sich so benimmt, verdient nicht, daß man ihrer gedenkt. Ich bedaure auch nicht, Angoulême verlassen zu haben. Diese Frau hat gut daran getan, daß sie mich nach Paris schleuderte und mich hier meiner eigenen Kraft überließ. Das ist der Ort für Schriftsteller, Denker, Dichter. Hier allein gedeiht der Ruhm, und ich kenne die schönen Früchte, die er heutzutage hervorbringt. Hier allein können die Schriftsteller in den Museen und Sammlungen die lebendigen Werke der Geister der Vergangenheit finden, die die Phantasie erwärmen und anregen. Hier allein bieten die riesigen Bibliotheken, die immer geöffnet sind, dem Geiste Nahrung und Belehrung. In Paris endlich liegt in der Luft und in den geringsten Kleinigkeiten ein Geist, der eingeatmet wird und sich in den literarischen Schöpfungen ausprägt. Man lernt in einer halben Stunde durch ein Kaffeehausgespräch oder im Theater mehr, als in der Provinz in zehn Jahren. Wahrhaftig, hier ist alles Schauspiel, dient der Vergleichung und Belehrung. Über die Maßen billig, unglaublich teuer: das ist Paris. Hier findet jede Biene ihre Wabe, jede Seele eignet sich an, was zu ihr gehört. Ich habe also in diesem Augenblick manches zu leiden, aber nichts zu bereuen. Im Gegenteil, eine schöne Zukunft tut sich vor mir auf und erquickt mein Herz, das für einen Augenblick im Schmerz untergetaucht war. Lebwohl, liebe Schwester. Erwarte nicht, regelmäßig Briefe von mir zu erhalten: es ist eine der Eigentümlichkeiten von Paris, daß man wahrhaftig nicht weiß, wie die Zeit vergeht. Das Leben verläuft hier schrecklich geschwind. Ich küsse die Mutter, David und Dich zärtlicher als je.«
     
    Flicoteaux ist ein Name, der sich manchem Gedächtnis eingeprägt hat. Die meisten Studenten, die in den ersten zwölf Jahren der Restauration im Quartier latin gewohnt haben, wissen von diesem Tempel des Hungers und Elends. Das Mittagessen

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