Verlorene Illusionen (German Edition)
über der Tür, die der, durch die er eingetreten war, gegenüberlag, einen Anschlag, auf dem die Worte standen: »Zur Redaktion«, und darunter »Verbotener Eingang«.
»Also eine Beschwerde?« fing der Soldat Napoleons wieder an. »Ja gewiß, wir sind hart gegen Mariette gewesen. Was soll ich machen? Ich weiß noch nicht einmal warum. Aber wenn Sie Rechenschaft verlangen, stehe ich zur Verfügung«, fügte er hinzu und blickte nach dem Degen und den Pistolen, die als Wahrzeichen des Rittertums unserer Zeit als dekoratives Gebinde an der Wand hingen. »Noch weniger. Ich möchte den Chefredakteur sprechen.«
»Es ist nie jemand vor vier Uhr da.«
»Hören Sie, alter Giroudeau, es sind elf Spalten, und die machen, wenn jede zu hundert Sous gerechnet wird, fünfundfünfzig Franken; vierzig habe ich bekommen: Sie sind mir also, wie ich Ihnen sagte, noch fünfzehn schuldig ...«
Diese Worte kamen von einem Menschen mit einem kleinen schlauen Gesicht, das aussah wie das Weiße eines schlechtgekochten Eies und in dem zwei Augen lagen, die lichtblau waren, aber vor Bosheit funkelten. Es gehörte einem schlanken jungen Mann, der hinter dem undurchsichtigen Körper des alten Offiziers verborgen war. Diese Stimme machte Lucien schaudern, sie klang wie das Miauen der Katzen und das erstickte kurze Aufheulen der Hyäne.
»Ja, mein lieber Rekrut,« antwortete der pensionierte Offizier, »aber Sie zählen die Titel und die Zwischenräume mit, und ich habe Auftrag von Finot, alle Zeilen zusammenzuaddieren und sie durch die Zahl der Zeilen, die jede Spalte haben soll, zu dividieren. Nachdem ich diese Henkersarbeit an Ihrem Beitrag vorgenommen habe, kommen drei Spalten weniger heraus.«
»Er zahlt die Zwischenräume nicht, der Wucherer! und er zahlt sie seinem Sozius für seine Arbeiten fortwährend. Ich gehe zu Etienne Lousteau, zu Vernou ...«
»Ich darf nicht über die Instruktion hinausgehen, mein Lieber«, sagte der Offizier. »Wie! wegen fünfzehn Franken toben Sie gegen Ihren Ernährer, und dabei schreiben Sie Ihre Artikel so leicht, wie ich eine Zigarre rauche! Was ist dann weiter! Sie zahlen Ihren Freunden eine Punschbowle weniger, oder Sie gewinnen eine Partie Billard mehr, und alles ist gut!«
»Finot macht Ersparnisse, die ihn teuer zu stehen kommen werden«, antwortete der Mitarbeiter und ging fort. »Sollte man nicht meinen, er sei Voltaire oder Rousseau?« sagte der Kassierer zu sich selbst und sah dabei unsern Dichter an.
»Ich werde um vier Uhr wiederkommen«, sagte Lucien.
Während der Auseinandersetzung hatte Lucien die Bildnisse von Benjamin Constant, dem General Foy, siebzehn berühmten Rednern der liberalen Partei und dazwischen wieder Karikaturen gegen die Regierung gesehen. Sein Blick war hauptsächlich gegen die Tür, die zu dem Allerheiligsten führte, gerichtet, in dem das witzige Blatt verfaßt werden mußte, das ihn alle Tage amüsierte und sich des Rechts erfreute, die Könige und die ernstesten Ereignisse lächerlich zu machen, kurz, mit einem guten Witz alles in der Welt als fragwürdig hinzustellen. Er schlenderte auf den Boulevards herum, und dieses Vergnügen, das ihm ganz neu war, fesselte ihn so, daß er die Uhren in den Uhrmacherläden vier Uhr anzeigen sah, ohne zu merken, daß er noch nichts gegessen hatte. Der Dichter kehrte schnell wieder nach der Rue Saint-Fiacre um, stieg die Treppe hinauf, öffnete die Tür, fand den alten Offizier nicht wieder vor, wohingegen der Invalide über seinem Stempelpapier saß und an einer Brotkruste nagte. Er saß mit resigniertem Gesicht auf seinem Posten, hier bei der Zeitung, wie früher im Dienst, und verstand jetzt ebensowenig, was um ihn her vorging, wie er früher die Gründe zu den vom Kaiser befohlenen Eilmärschen verstanden hatte. Lucien kam auf den kühnen Gedanken, den bedrohlichen Wächter zu täuschen; er behielt den Hut auf dem Kopf, durchschritt das Zimmer und öffnete, als wenn er zum Hause gehörte, die Tür zum Allerheiligsten. Er sah sich schnell in dem Redaktionszimmer um und gewahrte einen runden, mit grünem Tuch überzogenen Tisch und sechs Stühle aus Birkenholz mit Sitzen aus noch neuem Strohgeflecht. Der gestrichene Fußboden dieses Zimmers war nicht gebohnert, aber er war sauber, was anzeigte, daß er wenig benutzt wurde. Über dem Kamin hing ein Spiegel, den Kaminsims zierten eine kleinbürgerlich aussehende, verstaubte Standuhr und zwei Leuchter mit nachlässig hineingesteckten Kerzen; Visitenkarten waren
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