Verlorene Illusionen (German Edition)
umhergestreut. Auf dem Tisch lagen alte Zeitungen unordentlich um ein Tintenfaß herum, in dem die Tinte eingetrocknet war und wie Lack aussah, Federkiele umgaben es wie Sonnenstrahlen. Auf elenden Papierfetzen sah er Artikel, die mit unleserlicher und fast hieroglyphischer Schrift geschrieben waren; die Papiere waren oben von den Setzern der Druckerei eingerissen, die auf diese Weise die bereits erledigten Artikel bezeichnen. Dann bewunderte er hier und da Karikaturen, die recht witzig auf grauem Papier von Leuten gezeichnet waren, die ohne Zweifel versucht hatten, die Zeit totzuschlagen, indem sie ihre Hände damit beschäftigten, irgend etwas totzuschlagen. Auf der billigen grünen Tapete sah er mit Stecknadeln befestigt neun verschiedene Federzeichnungen, Karikaturen gegen den ›Einsiedler‹, ein Buch, das damals in ganz Europa einen unerhörten Erfolg gehabt hatte und dessen die Journalisten überdrüssig zu sein schienen: Der Einsiedler erscheint in der Provinz und berückt die Frauen. – Der Einsiedler wird in einem Schloß gelesen. – Wirkung des Einsiedlers auf die Haustiere. – Der Einsiedler wird den Wilden gebracht und erlangt den glänzendsten Erfolg. – Der Einsiedler wird ins Chinesische übersetzt und vom Verfasser in Peking dem Kaiser überreicht. – Am Mont Sauvage, Elodie wird vergewaltigt. Diese Karikatur schien Lucien schamlos, aber sie brachte ihn zum Lachen. – Der Einsiedler wird von den Zeitungen in feierlicher Prozession unter einem Baldachin herumgetragen. – Der Einsiedler bringt eine Druckpresse zum Explodieren und verletzt die ›Bären‹. – Von hinten gelesen, versetzt der Einsiedler die Mitglieder der Akademie durch hervorragende Schönheiten in Entzücken. – Lucien sah auf einem Zeitungsstreifband eine Zeichnung, die einen Mitarbeiter mit ausgestrecktem Hut darstellte, und darunter stand: »Finot, meine hundert Franken!« Unter diesen Worten befand sich die Unterschrift eines Mannes, der sehr bekannt geworden ist, aber niemals berühmt werden wird. Zwischen dem Kamin und dem Fenster standen ein Sekretärschreibttsch, ein Mahagonilehnstuhl und ein Papierkorb; vor dem Kamin lag ein länglicher Teppich; alles war von einer dicken Staubschicht bedeckt. An den Fenstern waren nur kleine Vorhänge. Auf der Sekretärplatte lagen ungefähr zwanzig Werke, die während des Tages eingegangen waren: Zeichnungen, Noten, Karikaturen auf die Charte, ein Exemplar der neunzehnten Auflage des ›Einsiedlers‹, der noch immer zu vielen Scherzen Anlaß gab, und ein Dutzend versiegelte Briefe. Als Lucien diese sonderbare Einrichtung lange genug betrachtet und allerlei hin und her überlegt hatte, ging er, als es fünf Uhr schlug, wieder zu dem Invaliden hinaus, um ihn zu fragen, wie lange es noch dauern könnte. Koloquint war mit seiner Brotkruste fertig geworden und wartete mit der Geduld einer Schildwache auf den ordengeschmückten pensionierten Offizier, der vielleicht auf dem Boulevard spazieren ging. In diesem Augenblick erschien eine weibliche Gestalt in der Tür; man hatte schon vorher das Rauschen ihres Kleides auf der Treppe und den leichten Tritt einer Frau, der so gut zu erkennen ist, gehört. Sie war recht hübsch.
»Werter Herr,« sagte sie zu Lucien, »ich weiß, warum Sie die Hüte von Fräulein Virginie so sehr loben, und ich will mich zunächst auf ein Jahr abonnieren; aber sagen Sie mir Ihre Bedingungen ...«
»Mein Fräulein, ich gehöre nicht zur Zeitung!«
»Ein Abonnement vom ersten Oktober an?« fragte der Invalide.
»Was wünscht die Dame?« fragte der alte Offizier, der eben eintrat.
Er konferierte mit der hübschen Modistin. Als Lucien, den das Warten ungeduldig machte, wieder in das erste Zimmer ging, hörte er den letzten Satz des Gesprächs:
»Aber gewiß, es wird mir sehr angenehm sein. Fräulein Florentine kann jederzeit in meinen Laden kommen und auswählen, was sie wünscht. Ich reserviere die Bänder. Also abgemacht: Sie nennen diese Virginie nicht mehr, diese Pfuscherin, die nicht imstande ist, eine Form zu erfinden; ich aber, wissen Sie, ich erfinde!«
Lucien horte eine Anzahl Taler in die Kasse fallen. Dann fing der Offizier an, sein Geld durchzuzählen.
»Sagen Sie einmal, ich warte nun seit einer Stunde«, sagte der Dichter mit recht ärgerlichem Gesicht.
»Sie sind noch nicht gekommen?« sagte der Veteran aus den napoleonischen Kriegen, und tat aus Höflichkeit, als ob er erschrecke; »das wundert mich nicht, ich habe sie schon seit einiger
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