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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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die List dieses geistigen Ausbeuters und wollte Lucien vor ihm warnen.
    »Verpflichte dich nicht, Lieber,« sagte sie zu ihrem Dichter, »warte; sie wollen dich ausnutzen; wir sprechen heute abend darüber.«
    »Bah!« antwortete ihr Lucien, »ich fühle mich stark genug, ich kann ebenso böse und ebenso schlau sein wie sie.«
    Finot, der sich ohne Zweifel der Zwischenräume wegen mit Hector Merlin nicht überworfen hatte, stellte Merlin und Lucien einander vor. Coralie und Madame du Val-Noble begrüßten sich zärtlich und wetteiferten an Freundlichkeit und Zuvorkommenheit miteinander. Madame du Val-Noble lud Lucien und Coralie zum Diner ein. Hector Merlin, der gefährlichste unter allen Journalisten, die bei diesem Diner anwesend waren, war ein kleiner, dürrer Mann mit zusammengekniffenen Lippen, der einen maßlosen Ehrgeiz und eine grenzenlose Eifersucht in sich trug, der über alles Schlimme, was um ihn her vorging, glücklich war, und der die Spaltungen, die er schürte, sich zunutze machte. Er hatte viel Geist, aber wenig Willenskraft, ersetzte jedoch den Willen durch den Instinkt, der die Parvenüs an die Orte führt, wo das Gold und die Macht wirkt. Lucien und er mißfielen sich gegenseitig. Die Erklärung hierfür ist nicht schwer. Merlin hatte das Unglück, mit lauter Stimme zu sprechen, wenn Lucien im stillen dachte. Beim Nachtisch schienen die Bande rührendster Freundschaft diese Männer zu vereinigen, von denen sich jeder dem andern überlegen glaubte. Lucien, der Neuling, war der Gegenstand, dem sie alle imponieren wollten. Man redete ohne Rückhalt miteinander; nur Hector Merlin lachte nicht. Lucien fragte ihn nach dem Grund seiner Zurückhaltung.
    »Aber ich sehe, Sie treten in die Welt der Literatur und des Journalismus mit Illusionen ein. Sie glauben an Freunde. Wir sind alle Freunde oder Feinde, je nach den Umständen. Wir treffen uns selbst zuerst mit der Waffe, die uns nur dazu dienen sollte, die andern zu treffen. Sie werden binnen kurzem merken, daß Sie es mit schönen Gefühlen zu nichts bringen. Wenn Sie gut sind, sorgen Sie dafür, daß Sie schlecht werden. Werden Sie bissig aus Berechnung. Wenn Ihnen noch keiner dieses oberste Gesetz gesagt hat, so vertraue ich es Ihnen an, und ich habe Ihnen damit kein kleines Geschenk gemacht. Wenn Sie geliebt sein wollen, gehen Sie nie von Ihrer Geliebten, ohne sie ein wenig zum Weinen gebracht zu haben; wollen Sie in der Literatur Ihr Glück machen, so verletzen Sie immer alle Welt, selbst Ihre Freunde, bringen Sie die Eigenliebe zum Weinen: alle Welt wird zärtlich zu Ihnen sein.«
    Hector Merlin war glücklich, als er an Luciens Miene sah, daß sein Wort in den Neuling eindrang, wie eine Dolchklinge ins Herz. Man spielte. Lucien verlor sein ganzes Geld. Coralie nahm ihn mit sich nach Hause, und die Wonnen der Liebe ließen ihn die furchtbaren Aufregungen des Spiels vergessen, dem er später zum Opfer fallen sollte. Als er am nächsten Tag von ihr gegangen und im Quartier latin angekommen war, fand er in seiner Börse die Geldsumme, die er verloren hatte. Diese Aufmerksamkeit bedrückte ihn anfangs, er wollte umkehren und der Schauspielerin das Geschenk wiedergeben, das ihn demütigte, aber er war schon in der Rue de la Harpe und setzte seinen Weg nach dem Hotel de Cluny fort. Während des Gehens beschäftigte er sich mit Coralie und ihrer Sorge für ihn und sah darin einen Beweis der mütterlichen Liebe, die mit der Leidenschaft dieser Art Frauen verbunden ist. Bei ihnen umschließt die Leidenschaft alle Empfindungen. Beim weiteren Nachdenken fand Lucien schließlich einen Grund, das Geschenk anzunehmen, indem er sich sagte:
    »Ich liebe sie, wir wollen wie Mann und Frau zusammen leben, und ich will sie niemals verlassen!«

Zweiter Teil
    Als Lucien die schmutzige, übelriechende Treppe seines Hauses hinaufging, als seine Tür knarrte, als er den unsauberen Fußboden und den armseligen Kamin seines kahlen, ärmlichen Zimmers wiedersah, flößte ihm der Gegensatz zu der Umgebung, aus der er kam, Gefühle ein, die ihm jeder nachempfinden kann, der nicht Diogenes ist. Auf dem Tisch fand er das Manuskript seines Romans und folgende Zeilen von Daniel d'Arthez:
    »Unsere Freunde sind mit Ihrem Werk fast völlig zufrieden, lieber Dichter. Sie können es, sagen sie, mit viel Vertrauen Ihren Freunden und Ihren Feinden vorlegen. Wir haben Ihren reizenden Artikel über das Panorama dramatique gelesen, und Sie müssen bei den Literaten ebensoviel Neid erregen

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