Verlorene Illusionen (German Edition)
Lucien ans Fenster. Sie sahen, wie Camusot einem prächtigen Coupé entstieg.
»Ich hätte nicht gedacht,« sagte sie, »daß man einen Mann und den Luxus so hassen könnte ...«
»Ich bin zu arm, um zugeben zu können, daß du dich zugrunde richtest,»sagte Lucien und beugte sich damit unter das kaudinische Joch.
»Mein armer Liebling,« sagte sie und drückte Lucien ans Herz, »du liebst mich also? – Ich habe den Herrn gebeten,« sagte sie zu Camusot, »heute vormittag zu mir zu kommen. Ich dachte, wir könnten in die Champs Elysées fahren, um den Wagen zu probieren.«
»Fahrt allein hin,« sagte Camusot traurig, »ich kann nicht mit euch zum Diner fahren, es ist der Namenstag meiner Frau, ich hatte es vergessen.«
»Armer Musot, wie wirst du dich langweilen!« sagte sie und fiel dem Kaufmann um den Hals.
Sie war trunken vor Glück bei dem Gedanken, daß sie den schönen Wagen allein mit Lucien einweihen, daß sie allein mit ihm ins Bois fahren würde; und in ihrer Freude machte sie den Eindruck, als liebte sie Camusot, dem sie tausend Zärtlichkeiten erwies.
»Ich wollte, ich könnte Ihnen jeden Tag einen Wagen schenken!« sagte der arme Mann.
»Kommen Sie, Herr von Rubempré, es ist zwei Uhr«, sagte die Schauspielerin zu Lucien, dessen peinliche Gefühle sie erriet und den sie mit einer entzückenden Geste tröstete.
Coralie hüpfte die Treppe hinab und zog Lucien mit sich. Der Kaufmann folgte ihnen mit dem schleppenden Gang einer Robbe, ohne sie einholen zu können. Der Dichter erlebte die berauschendste Freude: Coralie, die das Glück strahlend schön machte, hatte eine überaus geschmackvolle und elegante Toilette und wurde von entzückten Blicken betrachtet. Das Paris der Champs Elysées bewunderte die beiden Liebenden. In einer Allee des Bois de Boulogne begegnete ihr Coupé der Kalesche der Marquise d'Espard und der Frau von Bargeton, die Lucien mit erstaunten Mienen ansahen und denen er den verächtlichen Blick des Dichters zuwarf, der seinen Ruhm vorausfühlt und seiner Macht gewiß ist. Der Augenblick, in dem er mit einem Blick diesen beiden Frauen die Rachegedanken zuschleudern konnte, die um ihretwillen so lange an seinem Herzen genagt hatten, war einer der süßesten seines Lebens und vielleicht für sein Schicksal entscheidend. Lucien war wieder von den Furien des Stolzes besessen: er wollte wieder in der großen Welt erscheinen und dort eine glänzende Rache nehmen; alle die gesellschaftlichen Nichtigkeiten, die kaum erst unter den Füßen des Studierenden, des Angehörigen jenes Freundeszirkels zertreten waren, nahmen wieder von seiner Seele Besitz. Er verstand jetzt die ganze Tragweite des Angriffs, den Lousteau für ihn ins Werk gesetzt hatte. Lousteau hatte seinen Leidenschaften gedient, während der Zirkel, dieser Kollektivmentor, die Absicht zu haben schien, sie zugunsten von langweiligen Tugenden und von Arbeiten, die Lucien unnütz zu finden anfing, matt zu setzen. Arbeiten! Ist das nicht der Tod für die Seelen, die nach Genuß hungern? Wie leicht fallen darum auch die Schriftsteller in das far niente, das Wohlleben und die Genüsse des schwelgerischen Lebens, das die Schauspielerinnen und die leichten Frauen führen! Lucien spürte eine unwiderstehliche Lust, das Leben dieser beiden tollen Tage fortzusetzen.
Das Diner im Rocher de Cancale war ausgezeichnet. Die Gäste Florinens waren da, außer dem Minister, dem Herzog und der Tänzerin und Camusot; an ihrer Stelle waren zwei berühmte Schauspieler und Hector Merlin mit seiner Mätresse zugegen. Diese war ein entzückendes Weib und ließ sich Madame du Val-Noble nennen; sie war die Schönste und Eleganteste unter den Frauen, die damals in Paris eine Welt jenseits der vornehmen Welt bildeten, unter den Frauen, denen man heutzutage den schonenden Namen Loretten gegeben hat. Lucien, der seit achtundvierzig Stunden in einem Paradies lebte, lernte jetzt den Erfolg seines Artikels kennen. Der Dichter, der sich gefeiert und beneidet sah, fand jetzt die Sicherheit des Auftretens: sein Geist sprühte, er war der Lucien von Rubempré, der mehrere Monate lang in der Literatur und der Welt der Künstler glänzte. Finot, der eine unbestreitbare Fähigkeit besaß, das Talent zu ahnen, und der es aufspürte, wie ein Menschenfresser den Geruch frischen Fleisches in der Nase hat, umschmeichelte Lucien und versuchte ihn für die Journalistentruppe anzuwerben, deren Befehlshaber er war. Lucien biß auf diese Schmeicheleien an. Coralie bemerkte
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