Verlorene Illusionen (German Edition)
wie Bedauern bei uns.
Daniel.«
»Bedauern! Was meint er damit?« rief Lucien, der von dem höflichen Ton des Briefchens überrascht war.
War er denn für den Freundeskreis ein Fremder geworden? Nachdem er von den wunderbaren Früchten gekostet hatte, die ihm die Eva der Kulissenwelt gereicht hatte, lag ihm nur um so mehr an der Achtung und Zuneigung seiner Freunde aus der Rue des Quatre-Vents. Er blieb ein paar Augenblicke in Nachdenken versunken, dachte über sein gegenwärtiges Leben in diesem Zimmer und seine Zukunft in dem Coralies nach. Während seine Gedanken zwischen Ehre und Schande hin und her schwankten, ließ er sich nieder, um zu prüfen, in welchem Zustande ihm seine Freunde sein Werk zurückgaben. Wie groß war sein Staunen! Von Kapitel zu Kapitel hatte die geschickte Feder dieser noch unbekannten großen Männer mit Hingabe seine Kümmerlichkeiten in Schätze verwandelt. Ein reicher, gedrängter, kraftvoller Dialog war an die Stelle seiner Gespräche getreten, die, wie er jetzt einsah, im Vergleich mit diesen Reden, in denen der Geist der Zeit atmete, nur Geschwätz gewesen waren. Seine recht schwächlich hingestellten Porträts kamen jetzt kräftig und farbig heraus; alle schlossen sich durch physiologische Bemerkungen, die ohne Frage Bianchon zu verdanken waren, an absonderliche Phänomene des Menschenlebens an und waren voller Leben. Seine wortreichen Schilderungen waren gehaltvoll und lebendig geworden. Er hatte den Freunden ein armselig gekleidetes Kind gegeben und empfing von ihnen ein entzückendes erwachsenes Mädchen in weißem Gewande und mit rosafarbenem Gürtel, ein köstliches Geschöpf, zurück. Diese Seelengröße seiner Freunde überwältigte ihn, er empfand die Bedeutung der Lektion, die er empfing, er bewunderte die Korrekturen, die ihm mehr über die Literatur und die Kunst lehrten als die vier Jahre, in denen er gelesen, verglichen und studiert hatte, und er saß, als es schon ganz dunkel geworden war, noch immer mit Tränen in den Augen über seinem Manuskript. Die Verbesserung einer verunglückten Zeichnung, ein meisterhafter Zug im lebendigen Stoff sagen immer mehr als alle Theorien und Betrachtungen.
»Was für Freunde! Was für Herzen! Wie glücklich bin ich!« rief er aus, als er das Manuskript wieder zusammenschnürte.
Hingerissen von der Begeisterung, die den poetischen und beweglichen Menschen eigen ist, eilte er zu Daniel. Als er die Treppe hinaufging, hatte er aber doch das Gefühl, daß er dieser Herzen, die nichts vom Pfade der Ehre abwendig machen konnte, nicht mehr so würdig sei. Eine Stimme sagte ihm, daß Daniel, wenn er Coralie geliebt hätte, Camusot nicht mit in Kauf genommen hätte. Er kannte auch die tiefe Verachtung, die der Freundeskreis gegen die Journalisten hegte, und er fühlte sich schon ein wenig als Journalist. Er fand seine Freunde, außer Meyraux, der eben weggegangen war, in einer Verzweiflung, die auf allen Gesichtern zu lesen war.
»Was habt ihr, meine Freunde?« fragte Lucien. »Wir erfahren eben von einem furchtbaren Unglück: der größte Geist unserer Zeit, unser geliebtester Freund, der zwei Jahre lang unsere Leuchte gewesen ist...«
»Louis Lambert!« rief Lucien.
»...befindet sich in einem Zustand der Starrsucht, der keine Hoffnung mehr läßt«, sagte Bianchon.
»Er stirbt, sein Leib wird nichts davon spüren, und sein Kopf wird im Himmel sein«, fügte Michel Chrestien feierlich hinzu.
»Er stirbt, wie er gelebt hat«, sagte d'Arthez.
»Die Liebe kam wie ein Feuer über das unermeßliche Reich seines Gehirns und hat es entzündet«, sagte Léon Giraud.
»Ja,« sagte Joseph Bridau, »sie hat ihn so sehr entrückt, daß wir ihn aus dem Auge verlieren.«
»Nur wir sind zu beklagen«, sagte Fulgence Ridal.
»Vielleicht wird er sich erholen«, rief Lucien.
»Nach dem, was uns Meyraux gesagt hat, ist keine Heilung möglich«, erwiderte Bianchon. »Sein Kopf ist der Schauplatz von Vorgängen, auf die die Medizin keinen Einfluß hat.«
»Es gibt jedoch wirksame Kräfte«, sagte d'Arthez.
»Ja,« antwortete Bianchon, »er ist nur kataleptisch, wir können ihn blödsinnig machen.«
»Warum kann man dem Geist des Bösen nicht einen andern Kopf statt des seinen anbieten! Ich gäbe den meinen her«, rief Michel Chrestien.
»Und was würde aus der europäischen Föderation?« fragte d'Arthez.
»Oh, das ist wahr,« erwiderte Michel Chrestien, »man gehört der Menschheit mehr als einem einzelnen Menschen.«
»Ich kam mit
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