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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Lokalpatriotismus, der über die Zukunft eines großen Mannes in Sorge ist, und die Farbe einer aufrichtigen Bewunderung für das Talent eines Landsmannes gab, der sich so grausam kompromittiert hatte. Er sprach von den Fehlern, die Lucien begangen hatte, die ihn um die Protektion der höchsten Persönlichkeiten gebracht hatten und die daran schuld wären, daß eine Ordonnanz, die ihm das Wappen und den Namen »von Rubempré« übertrug, zerrissen worden wäre.
    »Wenn Ihr Bruder gut beraten gewesen wäre, wäre er heute auf dem Wege zu den größten Ehren und wäre Gatte der Frau von Bargeton. Aber was soll man sagen! Er hat sie verlassen und beschimpft. Sie ist zu ihrem großen Bedauern Gräfin du Châtelet geworden, denn sie liebte Lucien.«
    »Ist es möglich?« rief Frau Séchard. »Ihr Bruder ist ein Adler, den die ersten Strahlen des Luxus und des Ruhmes geblendet haben. Wer kann sagen, wenn ein Adler fällt, in welchen Abgrund er stürzen wird? Der Sturz eines großen Mannes steht immer im Verhältnis zu der Höhe, zu der er gelangt war.«
    Voller Schrecken über diesen letzten Satz, der ihr wie ein Pfeil ins Herz gedrungen war, ging Eva nach Hause. Sie war an der empfindlichsten Stelle ihrer Seele getroffen und bewahrte das tiefste Schweigen über alles, was sie gehört hatte; aber mehr als eine Träne fiel auf die Wangen und die Stirn des Kindes, das sie stillte. Es ist so schwer, auf die Illusionen zu verzichten, die der Familiensinn erzeugt und die mit dem Leben geboren werden, daß Eva Eugen von Rastignac nicht glauben wollte; sie wollte die Stimme eines wahrhaften Freundes hören. So schrieb sie also an d'Arthez, dessen Adresse ihr Lucien in der Zeit gegeben hatte, wo er für den Zirkel begeistert gewesen war, einen rührenden Brief und erhielt die folgende Antwort:
    »Verehrte Frau!
    Sie bitten mich um die Wahrheit über das Leben, das Ihr Herr Bruder in Paris führt. Sie wollen über seine Zukunft klarsehen, und um mich zu zwingen, Ihnen offen zu antworten, wiederholen Sie mir, was Ihnen Herr von Rastignac darüber gesagt hat, und fragen mich, ob die und die Tatsachen auf Wahrheit beruhen. Was mich betrifft, muß ich die Mitteilungen des Herrn von Rastignac zu Luciens Vorteil richtigstellen. Ihr Bruder hat Gewissensbisse gezeigt, er ist mit der Kritik meines Buches zu mir gekommen und hat mir gesagt, er könne sich nicht entschließen, sie zu veröffentlichen, obwohl der Ungehorsam gegen die Befehle seiner Partei einer geliebten Person große Gefahr gebracht hätte. Ach! es ist die Aufgabe eines Schriftstellers, die Leidenschaften zu verstehen, er setzt ja seinen Ruhm darein, sie zum Ausdruck zu bringen: ich habe also begriffen, daß bei der Wahl zwischen einer Geliebten und einem Freund der Freund geopfert werden mußte. Ich habe Ihrem Bruder sein Verbrechen erleichtert, ich habe selbst diesen Artikel, der mein Buch zu vernichten ausging, verbessert und habe ihn völlig genehmigt. Sie fragen mich, ob Lucien meine Achtung und meine Freundschaft behalten hat. Hier ist die Antwort schwierig. Ihr Bruder ist auf einem Weg, auf dem er zugrunde gehen wird. In diesem Augenblick bedaure ich ihn noch; bald werde ich ihn gern vergessen haben, nicht um deswillen, was er schon getan hat, sondern wegen dessen, was er noch zu tun genötigt sein wird. Ihr Lucien ist ein poetischer Mensch, aber kein Poet; er träumt, aber er denkt nicht; er ist leidenschaftlich, aber nicht schöpferisch. Kurz, er ist, gestatten Sie mir das Wort, ein Weibchen, das den Schein liebt, und das ist der Hauptfehler des Franzosen. So wird Lucien immer dem Vergnügen, seinen Geist glänzen zu lassen, seinen besten Freund opfern. Er würde gern morgen einen Pakt mit dem Bösen abschließen, wenn dieser Pakt ihm für einige Jahre ein glänzendes und üppiges Leben sicherte. Hat er nicht schon Schlimmeres getan, indem er seine Zukunft gegen die flüchtigen Wonnen des Lebens vertauschte, das er ganz öffentlich mit einer Schauspielerin führt? In diesem Augenblick verbergen ihm die Jugend, die Schönheit, die Hingebung dieses Weibes, das ihn anbetet, die Gefahren einer Situation, die die Welt nie billigen wird, selbst wenn er noch so viel Ruhm, Erfolg und Vermögen geerntet hätte. Jeder neuen Verführung gegenüber wird Ihr Bruder wie jetzt nur den Genuß des Augenblicks sehen. Sie mögen beruhigt sein, Lucien wird nie bis zum Verbrechen gehen, er hat nicht die Kraft dazu; aber er würde ein vollendetes Verbrechen akzeptieren, würde seine

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