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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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an uns zweifelt?« fragte Frau Chardon. »Der Unglückliche ist zu Fuß zu Ihnen gegangen, und er hat die schrecklichsten Entbehrungen durchgemacht, er hat sich vorgesetzt, demütig die bescheidensten Wege des Lebens zu wandeln und seine Fehler wieder gutzumachen.«
    »Herr Abbé,« erwiderte die Schwester, »trotz dem Elend, das er über uns gebracht hat, liebe ich meinen Bruder, wie man den Leib eines Menschen liebt, der nicht mehr am Leben ist; und wenn ich ihn so liebe, liebe ich ihn immer noch mehr, als viele Schwestern ihren Brüdern zugetan sind. Er hat uns sehr arm gemacht; aber er mag kommen, er kann den Bissen Brot, den wir noch haben, den er uns gelassen hat, mit uns teilen. Oh, wenn er uns nicht verlassen hätte, hätten wir unsere teuersten Güter nicht verloren.«
    »Und die Frau, die ihn uns geraubt hat, hat ihn in ihrem Wagen wieder zurückgefahren. In der Kalesche der Frau von Bargeton; neben ihr ist er fortgereist, und hinten auf ihrem Wagen ist er wieder zurückgekommen!«
    »Worin kann ich Ihnen in Ihrer Lage nützlich sein?« fragte der brave Pfarrer, der eine Abgangsphrase suchte.
    »Herr Abbé,« erwiderte Frau Chardon, »Geldmangel ist keine Krankheit, an der man stirbt, sagt man wohl; aber es ist eine Krankheit, in der kein Arzt außer dem Kranken selbst helfen kann.«
    »Wenn Sie so viel Einfluß hätten, meinen Schwiegervater dahin zu bringen, seinem Sohn zu helfen, würden Sie eine ganze Familie retten«, sagte Frau Séchard.
    »Er hat kein Vertrauen zu Ihnen, und schien mir sehr aufgebracht gegen Ihren Mann«, versetzte der alte Pfarrer, der aus den Redensarten des Winzers den Eindruck bekommen hatte, Séchards Geschäfte seien ein Wespennest, in das er nicht stechen wollte.
    Seine Mission war zu Ende, und der Priester begab sich zum Essen zu seinem Großneffen Postel, der den geringen guten Willen seines alten Onkels noch vollends wankend machte, indem er, wie ganz Angoulême, dem Vater gegen den Sohn recht gab.
    »Verschwendern kann man noch helfen,« sagte der kleine Postel zum Schluß; »aber mit denen, die Experimente machen, könnte man sich zugrunde richten.«
    Die Neugier des Pfarrers von Marsac war völlig befriedigt, und sie ist in allen Provinzen Frankreichs der Hauptgrund eines außergewöhnlichen Interesses, das man aneinander nimmt. Abends unterrichtete er den Dichter über alles, was sich bei den Séchards zugetragen hatte, wobei er von seiner kleinen Reise wie von einer Mission sprach, zu der ihn die reinste Barmherzigkeit gebracht hätte.
    »Sie haben über Ihre Schwester und Ihren Schwager zehn- bis zwölftausend Franken Schulden gebracht,« sagte er zum Schluß; »und, lieber Herr, niemand kann das seinen Nachbarn leihen, wenn es auch nur eine Kleinigkeit ist. Wir hier im Angoumois sind nicht reich. Ich glaubte, als Sie mir von Ihren Wechseln sprachen, es handelte sich um viel weniger.«
    Der Dichter dankte dem alten Pfarrer für seine Freundlichkeit und sagte: »Das Wort der Verzeihung, das Sie mir bringen, ist für mich wertvoll genug.«
    Am nächsten Morgen brach Lucien sehr frühzeitig von Marsac auf und kam gegen neun Uhr nach Angoulême. Er hatte einen Stock in der Hand, trug ein kurzes Röckchen, das von der Wanderschaft ziemlich mitgenommen war, und recht abgescheuerte schwarze Hosen. Seine heruntergetretenen Stiefel sagten überdies deutlich genug, daß er zur armseligen Klasse der Fußwanderer gehörte. Er verhehlte sich auch nicht, welche Wirkung der Gegensatz seiner Abreise und seiner Rückkehr auf seine Landsleute machen mußte. Aber das Herz schlug ihm noch von den Gewissensbissen, in die ihn der Bericht des alten Priesters versetzt hatte, und so nahm er für den Augenblick diese Strafe auf sich und war entschlossen, den Blicken seiner Bekannten zu trotzen. Er sagte bei sich selbst: »Ich bin ein Held!«
    All diese Dichternaturen fangen damit an, sich selbst zu betrügen. Mit jedem Schritt, den er in Houmeau tat, schwankte seine Seele mehr zwischen der Schande dieser Rückkehr und der Poesie seiner Erinnerungen. Sein Herz klopfte, als er vor Postels Tür vorbeikam, aber zu seinem Glück war Léonie Marron mit ihrem Kinde allein im Laden. Er sah mit Vergnügen – so sehr hatte seine Eitelkeit ihre alte Stärke bewahrt –, daß der Name seines Vaters nicht mehr dastand. Bald nach seiner Verheiratung hatte Postel das Haus neu streichen und über dem Laden, wie es in Paris üblich ist, das Wort ›Apotheke‹ anbringen lassen. Als Lucien die Treppe am

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