Verlorene Illusionen (German Edition)
auf unsern Namen bekämen!«
Der kleine, schmächtige Advokat schauderte, als er diese Worte hörte.
In diesem Augenblick traten bei Eva der Abbé Marron, der eben mit einem einzigen Wort das Justizdrama zur Entscheidung gebracht hatte, und ihr Schwiegervater ein.
»Hier, Frau Séchard,« sagte der alte Bär zu seiner Schwiegertochter, »ist unser Pfarrer, der uns schöne Dinge von Ihrem Bruder erzählen wird.«
»Oh!« rief die arme Eva voller Schrecken, »was kann ihm denn zugestoßen sein!«
Dieser Ausruf sprach von so viel vergangenem Leid, von so viel Befürchtungen und so viel Kummer aller Art, daß der Abbé Marron sich beeilte zu sagen: »Beruhigen Sie sich, Frau Séchard, er lebt!«
»Wären Sie so gut, Vater,« sagte Eva zu dem alten Winzer, »meine Mutter zu holen: sie soll auch hören, was der Herr uns von Lucien zu sagen hat.«
Der alte Mann holte Frau Chardon, zu der er sagte: »Sie werden mit dem Abbé Marron nicht so schnell fertig sein; er ist übrigens ein guter Kerl, obwohl er ein Priester ist. Es wird jedenfalls zu spät gegessen werden, ich komme in einer Stunde wieder.«
Und der alte Mann, der gegen alles stumpf war, was nicht wie Gold klang oder glänzte, verließ die alte Frau, ohne die Wirkung des Schlages zu bemerken, den er ihr versetzt hatte. Das Unglück, das auf ihren beiden Kindern lastete, das Scheitern der Hoffnungen, die man auf Lucien gesetzt hatte, die ganz unerwartete Wandlung eines Charakters, den man so lange für energisch und redlich gehalten hatte, all die Ereignisse dieser anderthalb Jahre hatten es schon zustande gebracht, daß Frau Chardon nicht mehr zu erkennen war. Sie war nicht nur von edler Abkunft, sie besaß auch ein edles Herz und betete ihre Kinder an: so hatte sie in den letzten sechs Monaten mehr Schmerzen gelitten als seit dem Tode ihres Mannes. Lucien hatte Aussicht gehabt, durch Ordonnanz des Königs ein Rubempré zu werden, diese Familie wieder zu beginnen, ihren Titel und ihr Wappen wieder zu beleben, groß zu werden. Und er war in den Schmutz gesunken! Denn sie war strenger gegen ihn als die Schwester und hatte Lucien an dem Tag für verloren angesehen, wo sie die Sache mit der Wechselfälschung erfahren hatte. Die Mütter wollen sich manchmal täuschen; aber sie kennen die Kinder, die sie genährt und nie von ihren Herzen gelassen haben, immer gut, und bei den Gesprächen, die David und seine Frau über Luciens Pariser Aussichten geführt hatten, hatte es zwar immer geschienen, als ob Frau Chardon Evas Illusionen über ihren Bruder teilte, aber im Innern hatte sie gezittert, David könnte recht haben, denn er sprach, wie sie das Gewissen der Mutter sprechen hörte. Sie kannte die schmerzliche Zartheit im Empfinden ihrer Tochter und konnte ihr daher ihren Kummer nicht ausdrücken, und so mußte sie ihn schweigend in sich verzehren, wie es nur die liebenden Mütter können. Eva ihrerseits gewahrte mit Schrecken die Verheerungen, die der Kummer bei ihrer Mutter anrichtete, sie sah, wie sie immer mehr hinfällig und altersschwach wurde. Mutter und Tochter belogen sich also gegenseitig in der edlen Weise, die niemanden täuscht. Im Leben dieser Mutter waren die Worte des grausamen Winzers der Tropfen, der den Leidenskelch füllte, und Frau Chardon fühlte sich ins Herz getroffen.
Als daher Eva zu dem Priester gesagt hatte: »Da kommt meine Mutter«, als der Abbé dieses eingefallene Gesicht sah, das in der Umrahmung der völlig weißen Haare und mit dem schönen, sanften und ruhigen Ausdruck, wie ihn Frauen haben, die sich fromm ergeben und in den Willen des Herrn, wie man sagt, gefügt haben, wie das Antlitz einer alten Nonne aussah, verstand er völlig, welches Leben die beiden armen Frauen geführt hatten. Der Priester empfand kein Mitleid mehr für den Schuldigen, für Lucien, er schauderte, wenn er an all die Leiden dachte, die die Opfer durchgemacht haben mußten.
»Mutter,« sagte Eva und trocknete sich die Augen, »der arme Bruder ist sehr nah bei uns, er ist in Marsac.«
»Und warum nicht hier?« fragte Frau Chardon.
Der Abbé Marron erzählte alles, was Lucien ihm über die Leiden seiner Reise und das Unglück seiner letzten Tage in Paris gesagt hatte; er schilderte die Qual, die den Dichter erfaßt hatte, als er erfuhr, was für Wirkungen seine Torheiten über seine Familie gebracht hatten, und sprach von seinen Befürchtungen bezüglich des Empfanges, der ihn in Angoulême vielleicht erwartete.
»Ist es so weit mit ihm gekommen, daß er
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