Verlorene Illusionen (German Edition)
durch so viele Schläge und Mißgeschicke eine große Schärfung erfahren hatte, errieten Luciens geheimste Gedanken, fühlten sich falsch beurteilt und sahen, wie er sich von ihnen entfernte.
»Paris hat ihn uns sehr verändert«, sagten sie sich. Sie pflückten jetzt die Frucht des Egoismus, den sie selbst großgezogen hatten. Auf beiden Seiten mußte dieser leichte Keim des Unfriedens weitergären, und er tat es. Aber hauptsächlich bei Lucien, der fühlte, wie sehr er die Vorwürfe verdiente. Eva war eine von den Schwestern, die einem Bruder, der gefehlt hat, sagen können: »Vergib mir dein Unrecht!« Wenn das Band der Seelen vollkommen gewesen ist, wie im Anfang des Lebens, das Eva und Lucien miteinander geführt hatten, wird jede Verletzung dieses schönen Bundes zu einer tödlichen Wunde. Wo Ruchlose sich nach Dolchstichen wieder vertragen, da brechen Liebende um eines Blickes, um eines Wortes willen unwiderruflich. In dieser Erinnerung an die vermeintliche Vollkommenheit eines Herzensbundes liegt das Geheimnis von Trennungen, die oft unerklärlich aussehen. Man kann mit einer Enttäuschung im Herzen leben, wenn die Vergangenheit nicht das Bild einer reinen und ungetrübten Gemeinschaft bietet; aber für zwei Wesen, die einmal völlig eines waren, wird das Leben unerträglich, wenn bei jedem Blick und bei jedem Wort Vorsicht nötig ist. So lassen denn auch die großen Dichter ihre Paul und Virginie jung sterben. Könnte man sich Paul und Virginie vorstellen, wie sie miteinander böse wären? Zum Lobe Evas und Luciens muß gesagt werden, daß die Interessen, die so stark verletzt waren, diese Wunden keineswegs schlimmer machten: bei der tadellosen Schwester wie beim Dichter, der sich verfehlt hatte, war alles Gefühl; daher konnte das geringste Mißverständnis, der kleinste Streit, ein neuer Fehler Luciens sie auseinanderbringen oder einen Streit hervorrufen, der genügte, die Familie unwiderruflich zu spalten. Geldangelegenheiten lassen sich wieder in Ordnung bringen, aber die Gefühle sind unbarmherzig.
Am nächsten Tage erhielt Lucien eine Nummer der Angoulêmer Zeitung und wurde vor Vergnügen blaß, als er sah, daß er Gegenstand einer der ersten Nachrichten aus Angoulême in diesem achtbaren Blatte war, das, wie die Akademien der Provinz, als wohlerzogene Tochter nach Voltaires Wort nie von sich reden machte: »Mag die Franche-Comté stolz darauf sein, Victor Hugo, Charles Nodier und Cuvier geboren zu haben; die Bretagne auf Chateaubriand und Lamenais; die Normandie auf Casimir Delavigne; die Touraine auf den Verfasser der Eloa: heute braucht das Angoumois, wo schon unter Ludwig XIII. der berühmte Guez, der unter dem Namen von Balzac bekannt war, unser Landsmann gewesen ist, diese Provinzen nicht mehr zu beneiden; und ebensowenig das Limousin, das Dupuytren hervorgebracht hat, oder die Auvergne, die Heimat von Montlosier, noch Bordeaux, das das Glück gehabt hat, so viele große Männer hervorzubringen; auch wir haben einen Dichter! Der Verfasser der schönen Sonette, die den Titel ›Margueriten‹ führen, genießt zugleich den Ruhm des Lyrikers und den des Romanschriftstellers, denn wir verdanken ihm auch den prächtigen Roman ›Der Bogenschütze Karls IX.‹. Eines Tages werden unsere Nachkommen stolz darauf sein, daß sie Lucien Chardon, einen Rivalen Petrarcas, zum Landsmann haben! ...«
In den Provinzzeitungen dieser Zeit glichen die Huldigungen den Hurrarufen, mit denen man in England die Speeches der Meetings begrüßt.
»Ungeachtet seiner hervorragenden Erfolge in Paris hat sich unser junger Dichter erinnert, daß das Hotel Bargeton die Wiege seiner Triumphe gewesen ist, daß die Aristokratie des Angoumois zuerst seinen Dichtungen zugejubelt hat; daß die Gattin des Herrn Grafen du Châtelet, des Präfekten unseres Departements, seine ersten Schritte auf der Laufbahn der Musen ermutigt hatte: und er ist zu uns zurückgekehrt! ... Unser ganzes Houmeau war freudig erregt, als man gestern unsern Lucien von Rubempré wiedersah. Die Nachricht von seiner Rückkehr hat überall das lebhafteste Aufsehen erregt. Es ist sicher, daß die Stadt Angoulême sich nicht in den Ehren überflügeln lassen will, mit denen man, wie man sagt, den Mann zu begrüßen gedenkt, der in der Presse wie in der Literatur unsere Stadt in Paris so glorreich vertreten hat. Lucien, der zugleich religiöser Dichter und Royalist ist, hat der Wut der Parteien getrotzt; er ist, wie man sagt, zu uns gekommen, um sich von den
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