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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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sein mögen. Hinterläßt die Liebe Bahnen im Herzen, die man gerne wieder geht? Gehört diese Erscheinung in das Gebiet des animalischen Magnetismus? Gebietet die Vernunft, daß man sich entweder niemals wiedersieht oder sich verzeiht? Mag diese Wirkung der Überlegung, einer physischen Ursache oder der Seele angehören, jeder muß erfahren haben, daß die Blicke, die Gebärden, die Bewegungen eines geliebten Menschen bei denen, die er noch so sehr gekränkt, bekümmert oder mißhandelt hat, auf Spuren von Zuneigung stoßen. Der Geist vergißt schwer; das Interesse leidet noch, aber das Herz hat sich trotz allem schon wieder in die Knechtschaft gefunden. So war denn die arme Schwester, als sie bis zur Stunde des Frühstücks die Bekenntnisse ihres Bruders anhörte, nicht Herrin ihrer Augen, wenn sie ihn ansah, und nicht ihres Tones, wenn sie ihr Herz sprechen ließ. Sie lernte nun die Elemente des literarischen Lebens in Paris kennen und verstand, wie Lucien in dem Kampf hatte unterliegen können. Die Freude des Dichters, als er mit dem Kind seiner Schwester spielte, seine kindlich frohen Einfälle, das Glück, seine Heimat und die Seinen wiederzusehen, dazu der tiefe Kummer, daß David sich versteckt halten mußte, die melancholischen Worte, die Lucien entfielen, seine Rührung, als er sah, daß seine Schwester sich in all ihren Nöten seiner Liebhaberei erinnert und Erdbeeren besorgt hatte: all das bis zu der Verpflichtung, den verlorenen Sohn unterzubringen und sich um ihn zu kümmern, machte aus diesem Tage ein Fest. Es war wie eine Rast im Elend. Selbst der alte Séchard brachte die Gefühle der beiden Frauen nicht zur Umkehr, als er sagte: »Sie feiern ihn, als ob er Tausende mit nach Hause brächte.«
    »Aber was hat denn mein Bruder getan, daß wir ihn nicht feiern sollten!« rief Frau Séchard, die ängstlich darauf bedacht war, Luciens Schande zu verbergen.
    Trotzdem drangen, nachdem die ersten Zärtlichkeiten vorbei waren, die wahren Farben durch. Lucien bemerkte bald, wie anders Eva ihn jetzt liebte als früher. David war aufs tiefste verehrt, während Lucien nur trotz alledem geliebt wurde, wie man eine Geliebte trotz allem Unheil, das sie bringt, liebhat. Die Achtung, die Grundlage, deren all unsere Gefühle bedürfen, ist der feste Stoff, der ihnen eine gewisse Sicherheit, der ihnen die Zuverlässigkeit gibt, die das Leben braucht. Sie fehlte zwischen Frau Chardon und ihrem Sohn und auch zwischen Bruder und Schwester. Lucien fühlte, daß er nicht mehr das ganze Vertrauen besaß, das man in ihn gesetzt hätte, wenn seine Ehre fleckenlos geblieben wäre. Die Auffassung, die d'Arthez' Brief ausgesprochen hatte, war die seiner Schwester geworden, und sie verriet sich in den Gebärden, in den Blicken, im Tonfall. Lucien wurde bedauert, aber er hatte einmal der Ruhm, der Stolz der Familie, der Held des heimischen Herdes werden wollen, und all diese schönen Hoffnungen waren rettungslos dahin. Man fürchtete seinen Leichtsinn so sehr, daß man ihm das Asyl verbarg, in dem David lebte. Eva war gegen die Zärtlichkeiten, mit denen Lucien die Äußerungen seiner Neugier begleitete, unerschütterlich; er wollte gern seinen Bruder sehen, aber sie war nicht mehr die Eva von Houmeau, für die einst ein einziger Blick Luciens einen unwiderstehlichen Befehl bedeutet hatte. Lucien sprach davon, er wolle sein Unrecht wieder gutmachen, und vermaß sich, David zu retten. Eva antwortete ihm: »Mische dich nicht ein; unsere Gegner sind die perfidesten und schlauesten Menschen.«
    Lucien warf den Kopf zurück, wie wenn er sagen wollte: ›Ich habe mit Parisern gekämpft‹, aber seine Schwester antwortete mit einem Blick, der bedeutete: ›Du bist besiegt worden.‹
    ›Man liebt mich nicht mehr‹, dachte Lucien. ›In der Familie ist also wie in der Welt der Erfolg alles.‹
    Schon am zweiten Tag wurde der Dichter, als er versuchte, sich das geringe Vertrauen seiner Mutter und seiner Schwester zu erklären, von Gedanken erfüllt, in denen zwar kein Haß lag, aber hochmütiger Kummer. Er legte den Maßstab des Pariser Lebens an dieses zurückgezogene Provinzleben an und vergaß, daß die geduldige Enge dieses entsagungsvollen Heimes sein eigenes Werk war.
    »Sie sind kleinbürgerlich, sie können mich nicht verstehen«, sagte er sich und schied sich so von der Schwester, der Mutter und Séchard ab, die er nicht mehr über seinen Charakter und über seine Zukunft täuschen konnte.
    Eva und Frau Chardon, deren Ahnungssinn

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