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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Palet-Tor hinaufging, spürte er Heimatsluft wehen, er empfand den Druck seines Unglücks nicht mehr und sagte sich mit Wonne: »Ich soll sie also wiedersehen.«
    Er erreichte die Place du Mûrier, ohne einem Menschen begegnet zu sein. Er hatte dieses Glück kaum erhofft; er, der früher als Triumphator in seiner Stadt gewandelt war! Marion und Kolb, die an der Tür Wache standen, stürzten mit dem Ruf: »Da ist er!« die Treppe hinauf.
    Lucien sah die alte Werkstatt und den alten Hof wieder, und auf der Treppe kamen ihm Mutter und Schwester entgegen. Sie umarmten einander und vergaßen dabei für einen Augenblick all ihr Elend. In der Familie schließt man fast immer mit dem Unglück einen Vergleich; man macht sich in ihm ein Lager zurecht, und die Hoffnung macht seine Härte erträglich. Wenn Lucien ein Bild der Verzweiflung darbot, so sah er auch wieder wie die Poesie aus: die Sonne auf der Landstraße hatte ihm die Haut gebräunt; die tiefe Melancholie, die sich seinen Zügen aufgeprägt hatte, warf ihre Schatten auf seine Dichterstirn. Diese Verwandlung sprach von so vielen Leiden, daß beim Anblick der Spuren, die das Elend auf seinen Zügen gelassen hatte, kein anderes Gefühl möglich war als Mitleid. Der Dichter fand bei der Rückkehr in den Schoß seiner Familie eine trübselige Wirklichkeit. Eva hatte in ihrer Freude ein Lächeln, wie es die Heiligen in ihrem Martyrium haben. Der Kummer verklärt das Gesicht einer sehr schönen jungen Frau. Der Ernst, der in dem Gesicht seiner Schwester an Stelle der mädchenhaften Unschuld getreten war, die sich bei seiner Abreise nach Paris darin ausgeprägt hatte, sprach zu beredt zu Lucien, als daß er nicht einen schmerzlichen Eindruck davon empfangen hätte. So folgte denn dem ersten starken Ausbruch der Gefühle, der so natürlich war, auf beiden Seiten ein Rückschlag: jeder fürchtete sich zu sprechen. Indessen konnte sich Lucien nicht enthalten, mit einem suchenden Blick sich nach dem umzusehen, der bei diesem Zusammensein fehlte. Eva verstand diesen Blick und brach in Tränen aus, und Lucien kam ebenfalls lautes Weinen an. Frau Chardon aber blieb leichenblaß und war anscheinend starr und unbeweglich. Eva stand auf, ging, um ihrem Bruder ein hartes Wort zu ersparen, hinunter und sagte zu Marion: »Lucien liebt die Erdbeeren so sehr, wir müßten welche haben!«
    »Oh, ich dachte mir schon, daß Sie Herrn Luciens Ankunft feiern wollten. Seien Sie ruhig, Sie werden ein hübsches Frühstück und auch ein gutes Mittagessen bekommen.«
    »Lucien,« sagte Frau Chardon zu ihrem Sohn, »du hast hier viel wieder gutzumachen. Du bist fortgegangen, um der Stolz deiner Familie zu werden, und hast das Elend über uns gebracht. Du hast das Werkzeug zum Glück in den Händen deines Bruders zerbrochen, zu dem Glück, auf das er nur für seine neue Familie bedacht war. Du hast nicht nur das zerbrochen ...«
    Es entstand eine schreckliche Pause. Lucien nahm diese mütterlichen Vorwürfe schweigend hin.
    »Schlage den Weg der Arbeit ein«, fuhr Frau Chardon sanft fort. »Ich tadle dich nicht, daß du versucht hast, die edle Familie, von der ich stamme, wiederaufleben zu lassen,« aber zu solchem Unternehmen bedarf es vor allem des Vermögens und des inneren Stolzes: du hast von alledem nichts besessen. Du bist schuld, daß dem Glauben an dich jetzt das Mißtrauen gefolgt ist. Du hast den Frieden dieser arbeitsamen und bescheidenen Familie, die hier auf schweren Wegen vorwärtskommen wollte, zerstört ... Den ersten Fehlern ist man ein erstes Verzeihen schuldig. Fang nicht wieder an. Wir sind hier in schwieriger Lage, sei vorsichtig, höre auf deine Schwester. Das Unglück ist ein Lehrmeister, und sein harter Unterricht hat bei ihr gut angeschlagen: sie ist ernst geworden, sie ist Mutter, sie trägt um unseres lieben Davids willen die ganze Last des Hausstandes; sie ist durch deine Schuld mein einziger Trost geworden.«
    »Du hättest noch strenger sein können«, sagte Lucien und küßte seine Mutter. »Ich nehme deine Verzeihung an, sie soll die einzige sein, die ich jemals brauche.«
    Eva kam zurück, und an der demütigen Haltung ihres Bruders sah sie, daß Frau Chardon gesprochen hatte. Sie war gütig genug, daß sie ihm zulächelte, und Lucien antwortete mit unterdrückten Tränen. Die Gegenwart hat etwas wie einen Zauber an sich, sie verwandelt die feindlichsten Stimmungen zwischen Liebenden wie zwischen Familienangehörigen, so stark auch die Gründe zur Unzufriedenheit

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