Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
versucht, sich das Gefühl seines weichen Haares an ihrer Wange einzuprägen, seine zarte Wirbelsäule unter ihren Fingerspitzen. Joshua erwidert die Umarmung.
„Ich habe noch was für dich, Joshua.“ Charm löst sich nur widerwillig von ihm. Sie schaut zu Claire auf, um sich zu vergewissern, dass sie Joshua etwas geben darf. Claire wirkt etwas unsicher, nickt aber.
„Was? Was hast du für mich?“, fragt Joshua ganz aufgeregt. Charm steht auf, wischt sich über die Augen und reicht ihm eine Geschenktüte.
Er reißt sie ihr förmlich aus der Hand, und Claire ermahnt ihn sanft: „Wie heißt das, Joshua?“
„Danke“, sagt er schnell, ist mit seinen Gedanken aber schon ganz woanders. Er steckt eine Hand in die Tüte, zieht das hellgrüne Seidenpapier heraus und mit ihm die Baseballkappe der Chicago Cubs, die Gus ihm gekauft hat, als er gerade geboren war, die Charm fünf Jahre lang in einem Schuhkarton versteckt hat, zusammen mit dem belastenden Foto von ihr und Joshua, den winzigen Söckchen und der Rassel.
Die Kappe, von der Gus gesagt hat, Joshua würde eines Tages in sie hineinwachsen.
„Oh, eine Baseballkappe.“ Joshua ist beeindruckt. „Genau wie die, die Luke hat, nur besser.“ Er setzt die Kappe auf, und der Schirm verbirgt seine Augen.
„Das ist eine tolle Kappe“, bestätigt Claire.
„Ja, wir rekrutieren unsere Cubs-Fans sehr früh“, erklärt Charm und wiederholt damit den Satz, den Gus immer gesagt hat. Sie lächelt unter Tränen.
„Ich sehe mich mal eben im Spiegel an“, erklärt Joshua und läuft zur Toilette.
„Das war sehr nett von dir.“ Claire ist plötzlich ganz ernst. „Du bist gut zu Joshua gewesen, Charm. Du wärst … du wärst eine gute Tante gewesen.“ Sie zögert. „Ich hoffe, du verstehst, warum wir eine Freundschaft zwischen euch beiden nicht befürworten können. Es wäre für Joshua zu verwirrend. Und dann istda noch dein Bruder.“
„Mein Bruder wird niemals versuchen, eine Beziehung zu Joshua aufzubauen oder ihn euch wegzunehmen“, erklärt Charm vehement. „Christopher kann keine weiteren Probleme gebrauchen. Meine Mutter …“ Sie seufzt. „… ist meine Mutter. Sie wird auch nicht versuchen, an Joshua heranzukommen. Ihr gefällt es besser, großes Chaos zu stiften und dann abzuhauen.“
„Ich weiß, dass du für Joshua nur das Beste gewollt hast, Charm. Du hast sein Leben gerettet, und dafür bin ich dir sehr dankbar.“
Charm zuckt mit den Schultern, nicht sicher, wie sie reagieren soll. „Das hier ist für dich“, sagt sie schließlich und reicht Claire den großen Umschlag, den sie mitgebracht hat.
„Was ist das?“, will Claire wissen.
„Krankengeschichten. Allison und ich haben alle Informationen zusammengesucht, die wir über unsere Familien auftreiben konnten“, erklärt Charm. „Es ist alles da drin. Außerdem Fotos von Allison, Christopher, Gus und mir, den Großeltern.“ Als sie Claires Gesicht sieht, fügt sie hinzu: „Nur für den Fall, dass du irgendwann denkst, er sollte sie sehen. Allison und ich werden niemals versuchen, Kontakt zu Joshua aufzunehmen. Das versprechen wir. Wir wollen, dass er glücklich und zufrieden ist, und das ist er, solange er bei dir und Jonathan sein kann.“ Charm fühlt, wie ihre Augen sich mit Tränen füllen, und weiß, dass es an der Zeit ist, Abschied zu nehmen.
Sie geht zur Tür und zwingt sich, nicht zurückzuschauen.
„Charm“, ruft Claire ihr hinterher, und Charm dreht sich um, hoffnungsvoll, erwartungsvoll. Joshuas Kappe sitzt schief auf seinem Kopf, und er hat die Arme um die Taille seiner Mutter geschlungen. Er sieht so glücklich aus. „Danke“, sagt sie mit tränenerfülltem Blick. „Ich danke dir für meinen Sohn.“
ALLISON
Eine Weile hatte ich fürchterliche Angst, dass alle denken würden, ich hätte etwas damit zu tun, dass Brynn versucht hat, Joshua zu ertränken. Die Polizisten haben mich stundenlang verhört, haben versucht, mich dazu zu bringen, etwas zuzugeben, irgendetwas. Aber am Ende erschien Devin, um mich erneut vor der Justiz zu retten. Sie hatte Brynns medizinische Akten aufgetrieben und die Notizen ihrer Sitzungen beim Psychologen in New Amery. In ihren Gesprächen mit dem Therapeuten hatte Brynn ausführlich über die Schuldgefühle gesprochen, die sie empfunden hatte, weil sie gedacht hatte, das Mädchen sei schon tot, als sie zum Fluss gegangen war. Meine Großmutter hat außerdem Brynns Tagebücher gefunden, die Zeichnungen, die die Nacht
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