Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
von meinem Arm, und sie sackte auf die Knie.
„Bist du verrückt?“, sagte ich ungläubig. „Du wolltest sie nicht – du hast mir mehr oder weniger befohlen, sie loszuwerden. Du hast sie es genannt! Ich wollte ihr nicht wehtun, ich dachte, sie wäre schon tot.“ Schnell drehte ich mich um und rannte zum Haus zurück. Undankbare Zicke, dachte ich.
„Warte!“, hörte ich sie hinter mir herrufen. „Bitte, Brynn. Ich brauche dich. Lass mich nicht allein!“
Ich ignorierte sie und rannte weiter, hielt mir die Ohren zu, versuchte, ihre Stimme auszublenden.
Das Gewicht des kleinen Jungen auf meinem Schoß ist tröstlich und belastend zugleich. „Joshua“, sage ich, und seine Lider flattern. „Wusstest du, dass du eine Schwester hast?“ Sein Mund öffnet und schließt sich, als wolle er etwas sagen. Dann fallen ihm die Augen wieder zu. „Ja, eine Schwester. Eine wunder-, wunderschöne Schwester. Willst du sie kennenlernen?“
Mit dem schlaffen Joshua auf dem Arm kämpfe ich mich auf die Füße und gehe in Richtung des fließenden Wassers. „Oh, du bist so viel schwerer, als sie es war“, flüstere ich ihm ins Ohr. Ich kann beinahe die Grillen zirpen hören, das Rauschen des Flusses, die Sommerbrise auf meiner Wange spüren. „Endlich, endlich“, sage ich ihm, „könnt ihr zusammen sein.“ Und damit lege ich ihn in das Wasser – vorsichtig, liebevoll – und biete Joshua so die Möglichkeit, zu seiner Schwester zu gehen.
ALLISON
Jonathan starrt immer noch schockiert auf das Foto von Charm, die Joshua in den Armen hält. Binks geht langsam rückwärts, als versuche er, unbemerkt zu fliehen. Charms Mutter lächelt merkwürdig, und ihre Augen funkeln, so als würde sie die ganze Situation tatsächlich genießen.
Ich höre sie, bevor ich sie sehe. Das langsame, widerhallende Dröhnen von Schritten auf der Treppe, das Quietschen einer sich öffnenden Tür. Meine Schwester tritt aus dem Schatten, die Arme seltsam vom Körper weggestreckt. „Brynn, was ist los?“, frage ich sie. „Was ist passiert?“ Sie antwortet nicht, sondern geht einfach weiter auf uns zu. Als sie näher kommt, sehe ich, dass sie klitschnass ist. Ihre Schuhe quietschen bei jedem Schritt. Ihre Augen sind dumpf und sehen aus wie tot, aber ihr Gesicht ist entspannt, und ich entdecke etwas Neues in der Miene meiner Schwester. Einen Ausdruck, den ich nie zuvor an ihr gesehen habe. Erleichterung.
„Brynn“, sage ich, dieses Mal etwas lauter. „Was ist los?“ Immer noch keine Antwort. Ich stelle mich vor sie und packe sie an den Oberarmen. „Brynn, wo ist Joshua?“
„Sie sind jetzt zusammen“, murmelt sie und gleitet wie in Trance an mir vorbei.
CLAIRE
Claire schaut verwirrt zu, wie Allisons Schwester langsam an ihnen vorbeigeht. Wasser tropft an ihr herunter. „Brynn?“, fragt sie. „Geht es dir gut? Wo ist Joshua?“ Brynn antwortet nicht, sondern murmelt nur leise vor sich hin und bewegt sich weiter auf die Eingangstür des Ladens zu.
„Brynn.“ Claire wird lauter. „Wo ist Joshua?“ Keine Antwort. Jonathan und Claire schauen einander an, und Jonathan greift nach Brynns Arm.
„Es ist gut. Sie sind jetzt zusammen“, flüstert Brynn und lächelt verklärt. Jonathan lässt sie los, und sie entfernt sich von ihm.
„Oh mein Gott … Joshua“, wimmert Claire, und sie und Jonathan rennen die Treppe hinauf. Allison folgt ihnen dicht auf den Fersen; sie rutscht aus und schlägt sich das Schienbein an.
„Joshua!“, schreit Claire. „Joshua!“ Sie stürmt in die Wohnung und auf das Geräusch von fließendem Wasser zu.
CHARM
Charm hört, dass Claire und Jonathan nach Joshua rufen, und folgt ihnen die Treppe hinauf. Brynn stößt gegen sie, und Charm spürt, wie nass ihre Kleider sind. „Was ist passiert?“, fragt Charm, als Brynn einfach weitergeht. „Warum bist du so nass?“
Brynn bleibt plötzlich stehen und sieht Charm an. Konzentriert runzelt sie die Stirn. „Zusammen“, flüstert sie. „Zusammen, zusammen. Ich muss gehen.“ Brynn zeigt wie in Trance auf die Tür. „Ich muss ihr sagen …“
Charm sieht zu, wie Brynn aus dem Buchladen taumelt. Wasser tropft aus ihrer Kleidung.
Ein Schrei ertönt in der Wohnung oberhalb des Ladens. „Hilfe! Jemand muss uns helfen!“ Charm schlüpft aus ihren Schuhen und rast die Treppe hinauf. Binks und ihre Mutter folgen ihr. Ihr Herz rast. Sie hat Angst vor dem, was sie vorfinden werden, wenn sie oben ankommen.
CLAIRE
„Ruf einen Krankenwagen! Bitte …“,
Weitere Kostenlose Bücher