Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
der Eröffnung des Buchladens zwölf Jahre zuvor einhergegangen waren. Den perfekten Laden auf der mit Eichen gesäumten Sullivan Street in der neu belebten Innenstadtlage von Linden Falls zu finden, sich um die Gründungsdarlehen für Kleinunternehmen zu kümmern, die Bücher zu bestellen und eine Teilzeitkraft einzustellen. Jonathan hingegen hatte den schönsten Buchladen entworfen, den Claire sich je hätte vorstellen können. Der Laden hatte ursprünglich eine Damenschneiderei beherbergt, die einer unabhängigen Frau gehörte, die irgendwann Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit ihrem alternden Vater nach Linden Falls gezogen war. Er war ganz entzückend, mit einer reich verzierten Messingdecke und einer Vertäfelung aus Walnussholz, die Jonathan unter Schichten von alter Farbe, Lack und Schmutz entdeckt hatte. Auf ihrem Streifzug durch die erste Etage und den Dachboden fanden Claire und Jonathan staubige Stoffballen und scheffelgroße Gläser mit Knöpfen ausMuschelschalen, Knochen und Zinn, die unter einem Tisch versteckt waren. Claire stellte sich gerne vor, welche Kleider auf diesem Tisch entworfen worden waren – ein Taufkleid mit Spitze, die winzigen Perlen, die auf ein Hochzeitskleid genäht wurden, ein schwarzes Trauerkleid aus Kaschmir.
Joshua versucht, allein auf den Tresen zu klettern. Seine Schuhe scharren an dem Frontpanel. „Mir ist langweilig“, wiederholt er und lässt sich zu Boden gleiten. „Wann ist er hier?“, fragt er erneut.
Claire kommt hinter dem Tresen hervor, streckt die Hände aus, nimmt Joshua in die Arme und setzt ihn neben die Kasse auf den Tresen. „Er wird in ungefähr …“, sie schaut auf die Uhr, „… einer halben Stunde hier sein, um dich abzuholen. Was willst du bis dahin tun?“
„Erzähl mir von meinem Habdich-Tag“, fordert er. Claire schenkt ihm einen langen, erwartungsvollen Blick. „Bitte“, fügt er hinzu.
„Okay.“ Claire zieht ihn in die Arme. Wie so häufig in letzter Zeit ist sie überrascht, wie groß er geworden ist. Sie kann kaum glauben, dass er schon fünf Jahre alt ist. Sie drückt die Nase an seinen Hals und atmet den beruhigenden Duft der Yardley-of-London-Seife ein, mit der er am Morgen gebadet hat. Plötzliche Schamhaftigkeit hatte Joshua angetrieben, Claire aus dem Bad zu schicken, als er sich für die Badewanne fertig machte.
„Nur Truman und Dad dürfen hier drin sein, wenn ich bade, weil wir alle Jungs sind“, hatte er erklärt.
Also hatte Claire das Badewasser eingelassen und danach auf dem Boden im Flur gesessen, den Rücken gegen die geschlossene Badezimmertür gelehnt, gewartet und ab und zu gerufen: „Alles in Ordnung da drin?“
Jetzt trägt sie Joshua zu dem dick gepolsterten Sofa, das in einer Ecke des Buchladens steht, und sie machen es sich für die Erzählung seiner Lieblingsgeschichte gemütlich. Die Geschichte, wie Joshua zu ihnen kam.
„Bevor wir über den Habdich-Tag sprechen können“, sagtClaire, „müssen wir über den Tag sprechen, an dem wir dich das erste Mal gesehen haben.“ Joshua kuschelt sich enger an sie, und wie jeden Tag in den letzten fünf Jahren staunt Claire darüber, wie süß er ist. „Im Juli vor fünf Jahren saßen dein Dad und ich am Küchentisch und überlegten, was wir zum Abendessen machen sollten, als das Telefon klingelte.“
„Das war Dana“, murmelt Joshua und spielt mit den perlmuttfarbenen Perlen am Ohrring seiner Mutter.
„Das war Dana“, stimmt Claire zu. „Und sie sagte, dass ein wunderschöner kleiner Junge im Krankenhaus auf uns wartete.“
„Das war ich. Ich habe im Krankenhaus gewartet“, erklärt Joshua Truman, der sich entschieden hat, sich zu den beiden zu gesellen. „Und meine leibliche Mutter konnte sich nicht um mich kümmern, und deshalb hat sie mich auf der Feuerwache gelassen. Der Feuerwehrmann hat mich da in einem Körbchen gefunden.“
„Hey, wer erzählt hier die Geschichte?“, fragt Claire und pikst ihn sanft in die Rippen.
„Na du!“ Joshua zieht seine kleine Himmelfahrtsnase kraus und versucht, ein zerknirschtes Gesicht zu machen.
„Ist schon okay, wir können sie zusammen erzählen“, versichert Claire ihm.
„Und die ganzen Feuerwehrmänner wussten nicht, was sie tun sollten!“, ruft Joshua. „Sie standen einfach da und schauten mich an und sagten: Das ist ein Baby! “ Joshua streckt die Hand mit der Handfläche nach oben aus und setzt eine betroffene Miene auf.
„Du warst eine Überraschung, so viel ist sicher.“ Claire
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